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Am Rand des Verstehbaren

In ihrem Langgedicht „doggerland“ bringt Ulrike Draesner die mittlere Steinzeit zum Sprechen

Von Frank Schäfer

Das Buch ist ein Experiment – in Form eines Epos. Ulrike Draesner reist zurück zum Beginn der Zivilisation, eben nach „doggerland“. So bezeichnen Archäologen eine in der südlichen Nordsee versunkene Landmasse, die vor 10.000 Jahren Kontinentaleuropa mit der heutigen Ostküste Englands verband. Eine fruchtbare Region von immerhin 23.000 Quadratkilometern Ausdehnung, also etwa der Größe Mecklenburg-Vorpommerns. Hier treffen Neandertaler und die aus Afrika einwandernden Homo Sapiens aufeinander, verschmelzen und entwickeln so etwas wie eine gemeinsame Kultur. Nicht zuletzt Sprache. Darum geht es Draesner vor allem, diese sprachliche Ursuppe noch einmal neu zu kochen. Sie sucht mit viel Fantasie phonetische, grafische und semantische Analogien zwischen dem Deutschen und Englischen – denn genau zwischen diesen Sprachgebieten liegt das Steinzeit-Atlantis –, um ein archaisches Idiom wiederauferstehen zu lassen, das noch nicht ausdifferenziert ist und beide Sprachen in sich vereint.

Dieses Verfahren zeigt sich auch in der Druckgestalt. Ihr Buch ist dreispaltig. Der Haupttext steht in der Mitte der Seite, das ist die Synthese, sie spricht von „Klangglocke“, die auf der rechten und linken Spalte einen Rahmen bekommt. Hier stehen deutsche und englische Signal- und Reizwörter, die den Assoziationsraum abstecken sollen. Man ahnt schon, „doggerland“ verlangt höchste Aufmerksamkeit und eine umsichtige, sich auf diesen wortspielerischen Textstrom einlassende, im besten Sinne mitspielende Lektüre.

„zwischen den farnen der spiegel silber des

süßwassersees. die kehle nackt die knochen

gestreckt zischt man sich an: hissing

du heißt

ihr/ear – a mouth on the sound (muskel, muzzle)

im dunkel leuchten feuer die man tragen

kann (fickle) vor ihnen her

durchs untere holz

verblühter rotdorn holunder flieder flüsternd (sus-

sus) folgen sie dem zahn am himmel der abnimmt

verschwindet wieder schwillt

jene zu finden die zwei dieser sicheln über die erde

tragen wollhaarige berge von fleisch von schwarz

das maul unter dem fluss einer nase versteckt

Ulrike Draesner: „doggerland“. Penguin, München 2021. 184 Seiten, 38 Euro

die böden streicht, gräser rupft. staubfresser

die. ungleich-ender, die.

krummstoßer, die.“

Offenbar eine Mammutjagd. Es passiert nämlich auch etwas in diesem Erzählgedicht – der Alltag in der mittleren Steinzeit. Man stellt Fallen, richtet Frettchen ab für die Jagd, später auch einen Falken, zähmt Wölfe. Man kommuniziert, lernt Mitleid kennen, Empathie, Liebe und entwickelt erste religiöse Vorstellungen. Und wie immer, wenn Literatur die Vergangenheit oder die Zukunft in den Blick nimmt, ist eigentlich das Heute gemeint. Draesner verhandelt hier nicht zuletzt die großen aktuellen Diskussionsthemen wie Klimawandel, Migration, Geschlech­ter­eman­zi­pation. So spielt das Wetter immer wieder eine schicksalhafte Rolle. Es hat etwas Bedrohliches, Unausweichliches. Flutwellen zerstören regelmäßig den Lebensraum der frühen Menschen. Es erscheinen Fremde aus einer fernen Weltgegend, die anders aussehen, andere Fähigkeiten haben, und die beiden Gruppen müssen sich verständigen und miteinander auskommen. Und Frauen sammeln hier eben nicht nur Beeren und Kräuter und halten das Feuer in Gang, wie es den vorgestrigen Vorstellungen der Archäologie des 19. Jahrhunderts entspricht. In „doggerland“ jagen sie ebenfalls, sind Anführerin und malen Höhlenbilder.

Wenn Lyrik die Grenzen der Sprache ausloten und vielleicht verschieben soll, was ja immer noch viele von ihr fordern, dann ist „doggerland“ die Probe aufs Exempel. Ulrike Draesner wagt etwas. Sie nutzt historische Wörterbücher, spielt mit historischem Sprachmaterial, um das archaische Bewusstsein und seinen Sprachstand zu imaginieren. Etymologisch ist das nicht immer abgesichert, im Zweifelsfall lässt sie einfach ihre assoziative Fantasie ins Kraut schießen. So entsteht ein avanciertes, ambitioniertes, den Leser mit Kalkül überforderndes Buch. Sie begibt sich an den Rand des Verstehbaren, oft darüber hinaus. Sie probiert, experimentiert, auch auf die Gefahr hin, dass es scheitert. Und das passiert natürlich auch immer wieder. Manches liest sich ungelenk, vieles sehr kryptisch, man muss eine gewisse Frustrationstoleranz aufbringen und sich durch manche semantische Wüstenei schleppen, aber man hat auch immer wieder erstaunliche Aha-Erlebnisse. Wenn man sich eingelesen hat und mit Verständnislücken und Leerstellen umgehen kann, dann ist es doch mehr als eine bloße Etüde und lyrisches Exerzitium. Dann fühlt man sich ein in unsere Urahnen. Dann gibt es sogar Momente der Spannung und Rührung.

Am Ende reist Draesner dann auch noch via lyrischen Timetunnel in die Zukunft. Jetzt wächst sich das Gedicht zu einer „Post-Drown“-Dystopie aus. Die Welt nach der neuerlichen Flut wird von „AI-Figuren“ beschrieben, die ein absurdes Denglisch-Kauderwelsch sprechen, eine Karikatur heutiger Jugendsprache. Dieser Post-Apokalypse-Appendix liefert lyrisch hochgejazzte, kaum noch entschlüsselbare Zukunftsbilder. Die hätte es nicht gebraucht, am Ende franst das Epos eher aus, als sich wirklich zu runden.

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