: Liebe in den Zeiten der Desinformation
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
einfach mal raus. Am besten dahin, wo es kein Internet gibt. Am liebsten auch noch das Smartphone zu Hause lassen. Irgendwohin aufs flache Land, allein auf eine Berghütte, eine einsame Insel. Manchmal ist es schier nicht mehr auszuhalten. Es gibt diese Tage, an denen der Nachrichtenstrom zur Flut wird. Irgendwas mit Herzogin Meghan, ein Fußballer, der irgendeinen Unsinn verzapft und ernst genommen wird, als würde er von dem etwas verstehen, was er sagt. NSU-Akten, die weggesperrt werden, weil sie beweisen, dass der Staat nicht gewillt ist, wirklich alle seine Bürger zu beschützen. Einer, der etwas von europäischen Werten erzählt und den Polen dabei helfen will, Menschen erfrieren zu lassen. Manchmal ist es einfach zu viel. Weg! Nichts wie weg hier!
Eine einsame Insel ist dann doch nicht zu finden. Auf den Berghütten gibt es nur noch einzelne Plätze in Gemeinschaftsschlafsälen. Und auf dem flachen Land gibt es ja sowieso nichts. Am Ende bleibt eine Ferienwohnung an diesem See, von dem immer alle schwärmen. Das WLAN muss man ja nicht nutzen. Auch den Fernseher nicht. Und auf den Abendspaziergang auf der überfüllten Uferpromenade kann man getrost verzichten. Ankommen. Durchatmen. Runterkommen.
Am nächsten Tag passiert es dann. Beim Brötchenholen. Einer in der Schlange sagt, dass man nichts mehr glauben kann, was in der Zeitung steht. Ein anderer kauft trotzdem eine. Es geht um die da oben und darum, dass keiner von denen da oben die da unten fragt. Afghanistan, Corona und irgendwas mit Migration. Die Welt ist wieder da. Aber wie ist die Welt? Einer weiß, dass niemand weiß, wie die Welt ist, weil die da oben dafür sorgen, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Woher er das weiß? Aus dem Internet. Nur da sei noch die Wahrheit zu finden. Oh je.
Eine andere berichtet von ganz neuen Portalen. So einen wie den Trump bräuchte es bei uns, sagt einer. Und eine andere meint, dass es noch einen ganz anderen brauche, einen, der … Wie früher eben, aber das dürfe man ja heute nicht mehr sagen. Einer kennt einen, der es wissen muss, weil er einen Bruder hat, dessen Frau im selben Ruderverein ist wie einer, der schon mal mit dem geredet hat, der den Beweis hat. Welchen Beweis? Egal. Auf jeden Fall sei alles anders, als sie es uns sagen. Sie? Und was eigentlich? Alles. Schon klar.
Aufregen? Runterschlucken? Sich erst mal einen Baldriantee machen? Die Flucht jedenfalls ist gescheitert. Das Herz meldet sich. Es hat Sehnsucht. Vielleicht ist es so weit. Eine Frage drängt sich auf: Ist heute der Tag, an dem du dich in unabhängigen Journalismus verliebst?
Herzlich grüßt Sie,
Andreas Rüttenauer
Redakteur für Sport und ehemaliger taz Chefredakteur
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