Die Monostruktur des Tourismus

Mario Pelitis Fotodokumentation „Hypervenezia“ im Palazzo Grassi, Venedig

Mario Peliti fotografierte diese Häuser an der Via Garibaldi im Stadtteil Castello 2015 Foto: Venice Urban Photo Project/Mario Peliti

Von Bettina Maria Brosowsky

Hyper: Diese Vorsilbe will auf etwas Überreales oder Verkanntes, aber als wesentlich Erachtetes verweisen. Mit diesem Anspruch möchte auch die Ausstellung „Hypervenezia“, die im Obergeschoss des gerade neuerlich renovierten Palazzo Grassi rund 400 Schwarz-Weiß-Fotografien von Venedig versammelt, eine andere, essenziellere Seite der Stadt zeigen als die pittoresken Szenen, die Jahr für Jahr unzählige Touristen, aber auch Laien- wie Profifotografen anziehen.

Verfasser der seit 2006 zuerst analog, ab 2013 auch digital angefertigten akkuraten Architekturfotografien ist der Galerist und Verleger Mario Peliti, 1958 in Rom geboren und, wenig verwunderlich, studierter Architekt. Mit seiner urbanen Fotostudie, konzipiert als kontinuierliche Bildrundgänge durch die sechs „Sestieri“ Venedigs, knüpft Peliti an die großen, methodisch wie formal stringenten fotografischen Chroniken des 19. und 20. Jahrhunderts an, etwa eines Eugène Atget (1857–-1927).

Dieser spürte das „Alte Paris“ in überkommenen Quartieren auf, die unter Baron Haussmann nicht modernisiert, sprich: zerstört worden waren, und schuf so ein visuelles Archiv im Verschwinden begriffener städtischer Phänomene.

Ähnlich Atget, der zum Sonnenaufgang in die noch menschenleere Stadt aufbrach, zeigt auch Peliti ausschließlich Architekturen und städtebauliche Situa­tionen, in der Regel ohne eine einzige Person.

Seine Bildästhetik und Vorgehensweise sind dabei unverkennbar an der Doktrin von Bernd und Hilla Becher geschult. Ihre typologischen Reihen etwa historischer, dem Abriss geweihter Industriebauten nahmen sie stets bei bedecktem Himmel auf, also ohne starke Kontraste und dramatische Schlagschatten. Die Abzüge einer Serie perfektionierten sie anschließend zu einem konstanten Kanon differenzierter Grautöne, mit einem identischen Hellwert für den Himmel.

Auch Peliti arbeitet mit diesem disziplinierten, bewusst unspektakulären Duktus, seine dokumentierende Fotografie konzentriert sich auf die jeweilige Situation und ihren Detailreichtum. So kompiliert sie die städtebaulichen wie auch psychogeografischen Labyrinthe Venedigs, das unaufhaltsame Altern der Bauten, erspürt das ästhetische Geheimnis selbst noch im bescheidensten Bestand, zeigt aber auch die brutale Überformung durch das moderne Leben und seine Infrastrukturmaßnahmen.

Während für Atget der Verzicht auf Menschen im Architekturkontext dem damaligen Stand der Fototechnik geschuldet war, möchte Peliti seinen Aufnahmen eine andere Lesart unterlegen. Da die professio­nellen Großformate mit extrem langer Belichtungszeit erstellt sind, werden durch das Bild laufende einzelne Personen gar nicht erst erfasst, Menschen könnten also trotz ihrer bildnerischen Abwesenheit zum Aufnahmezeitpunkt gegenwärtig gewesen sein.

Die Dokumentation hält das unaufhaltsame Altern der Bauten fest und erspürt die ästhetischen Geheimnisse des Bestands

Generell sind sie aber eine aussterbende Spezies in Venedig: Nur noch rund 53.000 Einwohner zählt die Stadt derzeit in ihren historischen Grenzen, das Maximum lag in den 1950er Jahren einmal bei gut 185.000. Venedig ist somit zwar noch lange nicht die menschenleere Geisterstadt, wie die Bilder suggerieren, es gibt eine Universität mit etwa 20.000 Studierenden und international bedeutende und stark frequentierte Kultur- und Forschungseinrichtungen sowie Museen. Aber Pelitis Fotos mögen wie ein Menetekel wirken, besonders in Richtung einer Politik, die einzig auf die Monostruktur Tourismus setzt als das moderne Lebenselixier einer historischen Stadt.

Derzeit umfasst Mario Pelitis urbane Langzeitstudie über 12.000 Fotografien, er möchte sie bis 2030 weiterführen, peilt einen Umfang von dann mindestens 20.000 Aufnahmen an. Bereits seit 2018 kooperiert er mit verschiedenen staatlichen Institutionen, die die historische Dimension dieses Vorhabens längst erkannt haben. Im Palazzo Grassi mäandern die Fotoreihen, dicht an dicht und ohne Rahmung gehängt, durch die Räume: Dokumente, keine Kunstwerke.

Begleitet werden sie von einer pathetischen 3-Kanal-Multimedia-Projektion fast aller 12.000 Fotos sowie von einer großen Stadtkarte im Geiste der Vogelschau, die Jacopo de’ Barbari um 1500 schuf. Sie vereint als ein Mosaik Kennfotos der jeweiligen Mikrosituation zu einem visuellen Gesamterlebnis Venedigs, das im Gegensatz zu den Fotoreihen auch die Touristen­magnete Rialtobrücke, Piazza San Marco oder ikonische Palazzi umfasst – wohl allesamt Zugeständnisse an eine vermutete Publikumserwartung.

Denn recht besehen eignet sich solch ein eher sprödes, dokumentarisches Projekt wie das von Mario Peliti nur bedingt für eine Ausstellung, seine Aufgabe ist der Hyperkommentar zum fragilen Status der europäischen Stadt.

Bis 9. Januar, Palazzo Grassi, Venedig. Bei Marsilio Editori ist ein Katalog erschienen, 30 Euro