: Whale Watching am Watt
Von toten und lebenden Meeressäugern: Das „Waloseum“ in Norden vereint Umweltbildung und Geschichte – und das am Standort eines ehemaligen NS-Propagandasenders
Von Harff-Peter Schönherr
Wer die B72 nimmt und am Kreisverkehr kurz vor Norddeich die erste Ausfahrt, sieht rechts und links bald nur noch Felder. Ostfriesisches Marschland, nichts Aufregendes. Doch dann, nach zwei Kilometern, kommt links der Osterlooger Weg, und plötzlich ändert sich alles.
Hier, nur wenige Gehminuten vom Meer, liegt die ehemalige Küstenfunkstelle Norddeich Radio. Ihr gewaltiger Mastenwald steht zwar nicht mehr, aber dass sie im Zweiten Weltkrieg englischsprachige Propaganda („Germany calling!“) Richtung London sendete und deutschen Bombergeschwadern bei ihrer Rückkehr aus Großbritannien Navigationsunterstützung gab, kann sich jeder, der das alte Sendegebäude betritt, noch heute gut vorstellen. Abweisend wirkt es, seltsam düster.
Aber den meisten Besuchern geht es um die Natur. Denn vor 15 Jahren ist hier ein Zentrum des Nationalparks Wattenmeer entstanden. Erst die Quarantäneabteilung der Seehundstation Nationalpark-Haus Norden, kurz darauf das „Waloseum“.
Und Wale gibt es hier tatsächlich, 25 fast gespenstisch lebensechte Modelle, in der Ausstellung „Wale der Welt“, im Maßstab 1:10, gestaltet von Reiner Götsche aus Geltorf in Schleswig-Holstein. Das Kernstück allerdings ist echt und schwebt, umfangen von tiefseehafter Bläue, im ehemaligen Diesel-Saal des Senders: das Skelett eines 15 Meter langen Pottwalbullen, gestrandet im November 2003 vor Norderney. Daneben, fast ebenso groß: ein Riesenkalmar. Zwei gewaltige Jäger, Seite an Seite – Jäger und Beute, wenn sie in der Tiefe aufeinandertreffen.
Auch das Blauwalherz ist ein Blickfänger, groß wie ein Auto, blutrot illuminiert. Sieben Schläge pro Minute wummert der Tieftöner. Früher war es begehbar, durchkriechbar. Aber das ist vorbei. „Manche Besucher denken sich seltsame Sachen aus“, schüttelt Peter Lienau den Kopf, der Leiter von „Waloseum“ und Seehundstation. „Einige haben im Herz sogar gefrühstückt.“
Warum auch ein Eisbär im „Waloseum“ zu sehen ist, ein Pavian und ein Pinguin? Lienau: „Das symbolisiert die Ausdehnung der Zugroute der Pottwale. Die reicht ja von der Arktis bis in die Antarktis.“ Der Pavian steht also für Äquatorialafrika. Witziger Ansatz.
Aber primär geht es natürlich um das Watt, seit 2009 Unesco-Weltnaturerbe, und in das geraten Pottwale nur, wenn sie sich verirren: „Wir zeigen und erklären hier ein vielfältiges, äußerst fragiles Ökosystem“, sagt Lienau. „Jede Störung ist für diesen Lebensraum sehr schmerzhaft. Mikroplastik zum Beispiel. Oder Geisternetze.“ Diese Störeinflüsse erhalten im „Waloseum“ umweltpädagogisch Gewicht.
Historische Sendetechnik, Ökologie, weltumspannende und lokale Naturkunde? Dazu eine Station für verletzte Wildvögel? Dazu eine Quarantäne für Meeressäuger, die bis zu 250 Tiere pro Jahr aufnimmt, Kegelrobben inklusive? Nicht leicht, das zu vereinen.
Das „Waloseum“ verlockt dazu, aktiv zu werden. Im alten Sendesaal ist die Vogelwelt der Nordseeküste nachgestellt, künstlicher Strand inklusive. Wer ein Fernglas mitbringt, kann danach rübergehen zur Küste und vergleichen. Und wer das Schweinswal-Skelett der Ausstellung gesehen hat, fährt danach vielleicht ins nahe Wilhelmshaven, denn im Jadebusen lassen sich Schweinswale gut beobachten. Und wer den Osterlooger Weg weitergeht, erst Richtung Meer und dann links, hat einen guten Blick auf das riesige Gelände, auf dem einst die Masten standen.
Pottwalstrandungen sind im Wattenmeer nicht selten. Auch in Wilhelmshaven, auf Borkum, Wangerooge und Spiekeroog sind Skelette zu sehen. Unterwasserlärm durch Schiffe ist oft der Grund. Oder der Bau von Bohrtürmen, militärisches Sonar, treibender Müll, Chemikalien. Aber nicht immer ist der Mensch die Ursache: „Es kann auch sein“, sagt Lienau, „dass unser Wal bei Schottland einfach falsch abgebogen ist, um einer Nahrungsquelle zu folgen.“
Walstrandungen gab es hier übrigens auch im Krieg. Vor Utlandshörn, der Betriebszentrale aller Anlagen von Norddeich Radio, wurde im Sommer 1944 ein neun Meter langer Wal gesichtet, der nicht wieder ins freie Wasser fand. Man hielt ihn für ein U-Boot, die Flak schoss ihn ab, es gab Walfleisch. Die Folge: tagelanger Durchfall. Die Rache der Natur?
„Waloseum“, Osterlooger Weg 3 26506 Norden, Sa und So bis 28. 11., dann täglich vom 26. 12. bis 10. 1., vom 30.1. bis 2. 2., vom 26. 2. bis 1. 3. und ab 1. 4., jeweils 10–17 Uhr;
Eintritt: Erwachsene 10 Euro, Kinder 6 Euro, Familien 29 Euro
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