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Wir, dieExtraterrestrischen

Der französische Philosoph Bruno Latour fragt nach Lektionen aus dem Lockdown. Klar ist für ihn: Es gibt kein Zurück indie Welt vor der Pandemie

Von Peter Schneider

In seinen Büchern „Wir sind nie modern gewesen“ (1991) und „Die Hoffnung der Pandora“ (1999) hat der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour die Trennung von Bereichen wie Natur und Kultur, Politik und Wissenschaft, menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten als die „Verfassung der Moderne“ beschrieben. Eine Verfassung, die sich allerdings dadurch auszeichnet, dass unter ihrer Herrschaft systematisch das unterlaufen wird, was sie verlangt. Die Moderne mischt, wo sie Trennungen fordert, sie ist besiedelt von Hybriden aus Dingen und Menschen.

Es geht Bruno Latour bei dieser Feststellung freilich nicht um die Diagnose, dass die Technik begonnen hat, die Menschen zu beherrschen, statt – wie eigentlich vorgesehen – lediglich die für die Naturbeherrschung durch die Menschen notwendigen Instrumente zu liefern. Man versteht, so Latour, Dinge und Menschen vielmehr nur dann adäquat, wenn man ihre Symbiose versteht. Das ist auch der Kern der von Latour, Michael Callon, John Law, Madeleine Akrich und Annemarie Mol entwickelten und ausgearbeiteten Aktanten-Netzwerk-Theorie (ANT).

Nehmen wir als ein einfaches Beispiel eine mechanische Schreibmaschine: Sie ist nicht nur williges Instrument unter den Händen eines darauf tippenden Menschen; sie erzwingt – als Aktant – ihrerseits ein bestimmtes Verhalten. Die Buchstaben auf ihrer Tastatur sind nicht alphabetisch angeordnet, sondern in einer ländertypisch genormten Verteilung, die eine bestimmte Bedienung (Zehnfingersystem) zwar nicht erzwingt, aber nahelegt. Die Schreibmaschine ist außerdem Teil einer zunächst neuartigen und nun wieder veralteten Schreib- und Reproduktionskultur usw.

Latours „Versuch einer symmetrischen Anthropologie“ (so lautet der Untertitel von „Wir sind nie modern gewesen“) zielt also darauf, die Moderne nicht ihrer Verfassung, sondern ihren realen Praktiken nach zu beschreiben – nämlich so, wie Anthropologen vormoderne Gesellschaften beschreiben: als miteinander verbundene Subsysteme, in denen, wenn nicht alles mit allem, doch mindestens vieles miteinander zusammenhängt, ohne dass dieser Zusammenhang einem einzigen Prinzip folgt. Man könnte also von einer „holistischen“ Betrachtungsweise sprechen.

Bruno Latour hat sich von der esoterischen Konnotation des Begriffs der Ganzheitlichkeit nicht beeindrucken lassen: Seine im französischen Original 2015 erschienenen „Acht Vorträge über das neue Klimaregime“ tragen in der deutschen Fassung den Titel „Kampf um Gaia“.

Bruno Latour: „Wo bin ich?“. Aus dem Französischen von H.-J. Russer und B. Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 199 Seiten, 16 Euro

In einem Essay für die „Los Angeles Review of Books“ (3. 7. 2018) beschreibt Latour, warum er auf die von John Lovelock und Lynn Margulis in den 1960er und 1970er Jahren formulierte Gaia-Theorie zurückgreift, die den Namen der „Mutter Erde“ aus der griechischen Mythologie trägt: „Auf den ersten Blick gibt es nichts Einfacheres als die Gaia-Hypothese: Lebewesen leben nicht in einer Umwelt, sie gestalten sie. Was wir als Umwelt bezeichnen, ist das Ergebnis der Erweiterungen der Lebewesen, ihrer erfolgreichen Erfindungen und Ausbildungen. Dies ist kein Beweis dafür, dass die Erde ‚lebendig‘ ist, sondern vielmehr dafür, dass alles, was wir auf der Erde erleben, die unvorhergesehene, sekundäre und unwillkürliche Auswirkung der Tätigkeit lebender Organismen ist. Das gilt für die Atmosphäre, die Böden und die chemische Zusammensetzung der Ozeane. Wir sehen es an Termitenhügeln und Biberdämmen, die an sich nicht lebendig sind, aber ohne lebende Organismen gäbe es keine Hügel oder Dämme. Die Gaia-Idee bedeutet also nicht, dass der Erdkugel eine Seele oder den Lebewesen eine Absicht unterstellt wird, aber sie erkennt den erstaunlichen Einfallsreichtum an, mit dem die Lebewesen ihre eigene Welt gestalten.“

An dieser Stelle knüpft Bruno Latours neuestes Buch „Wo sind wir? Lektionen aus dem Lockdown“ an. Für Latour ist der durch die Coronapandemie erzwungene Lockdown ein Moment, Ökonomie anders wahrzunehmen; und zwar nicht als eine zwingende Superordnung, die durch einen Virus gestört wurde und deren Herrschaft zur Sicherung unserer Interessen baldmöglich wiederhergestellt werden muss:

„Das Seltsame an der Ökonomie ist nämlich, dass sie sich zwar mit den gewöhnlichsten, wichtigsten, unseren täglichen Sorgen aufs Engste verbundenen Dingen abgibt, diese aber hartnäckig so behandelt, als seien sie denkbar weit entfernt und spielten sich ohne uns ab, als würden sie vom Sirius aus und völlig interesselos erfasst …“

Wir betrachten und behandeln die Erde, als seien wir Extraterrestrische. Dieser „globalen“ Sichtweise stellt Latour eine lokale entgegen, wo sich diese neue Lokalität nicht in Abständen, sondern in Abhängigkeiten bemisst und aus diesem Grund auch Tausende von Kilometern umfassen kann.

Zum Beispiel die Entfernung eines chinesischen Wildtiermarkts von europäischen Städten. „Die Beschreibung der wechselseitigen Abhängigkeiten zwingt dazu, … die Diskussionen, die die Ökonomie beenden wollte, wieder zu eröffnen. … Die Erdverhafteten sind aufgefordert, mit ‚Ökologie‘ nicht eine Domäne, eine neue Aufmerksamkeit für ‚Grünes‘ im weitesten Sinne zu bezeichnen, sondern einfach das, was aus der Ökonomie wird, wenn die Beschreibung wieder einsetzt.“

Man versteht Dinge und Menschen nur dann adäquat, wenn man ihre Symbiose versteht

Wenn wir also den abstrakten (und ungeheuer wirkungsvollen) Universalismus der Ökonomie durch konkrete Beschreibungen des Zusammenspiels menschlicher und nichtmenschlicher Aktankten (dazu gehören unter anderen auch Pestizide, Viren, Pilze, Böden …) ersetzen.

In seinem Essay schlägt Latour (wie eigentlich schon im „Parlament der Dinge“, 1999) einmal mehr den Bogen von der Wissenschaftsphilosophie zur Politik. Oder, wie es Latour vermutlich formulieren würde: Er enthüllt den Zusammenhang zwischen Politik und der Art, wie wir die Dinge und die Verhältnisse betrachten, und schlägt eine Alternative für eine andere Betrachtung vor, eine lokale, terristrische. Ob zur Veranschaulichung seiner Gedanken Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ – der über Nacht in einen Käfer verwandelte Gregor Samsa mutiert dabei zugleich zum ökologischen Helden – sehr dienlich ist, kann man im Laufe der Lektüre bezweifeln.

Auch fällt es möglicherweise schwer, Latours Argumentation nachzuvollziehen, wenn man sie nicht vor dem Hintergrund seiner bisherigen Arbeit liest. Ich rate darum, sich gleich auch noch „Die Hoffnung der Pandora“ zu Gemüte zu führen. Es lohnt sich.

Peter Schneider ist Psychoanalytiker in Zürich, Kolumnist und Autor zahlreicher Bücher

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