: Wir sind so frei in Lissabon
Alles erlaubt: Portugal hat seine Corona-Maßnahmen abgeschafft. 86 Prozent der Menschen sind geimpft. Nach dem Impfausweis fragt niemand mehr. Wie haben die das geschafft?
Antonio Costa Pinto, Sozialwissenschaftler
Aus Lissabon Tigran Petrosyan
Das Ozeanarium in Lissabon ist proppenvoll. Es gibt dort mehr Menschen als Fische. Frauen und Männer mit Kinderwagen, alte Damen in Rollstühlen, Schüler*innengruppen und viele Tourist*innen tauchen in die Unterwasserwelten des größten Aquariums Europas ein. Die Menschen drängen sich entlang der Glaswand des Großaquariums, das mit fünf Millionen Litern Wasser gefüllt ist. „Keine Sorge, das Glas wird nicht bersten“, beruhigt eine Frau eine andere, die sich minutenlang bemüht, ihre beiden Kinder aus der Menge herauszufischen. „Wir sind glücklich, nicht mehr in Isolation leben zu müssen“, sagt ein Besucher. Hinter ihm läuft eine Gruppe vorbei, die mit ihren Handykameras darauf wartet, dass der große Hai erneut näherkommt.
Anders als viele Länder Europas ist Portugal bislang von der vierten Coronawelle verschont geblieben. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt derzeit bei 75,9. Aus dem aktuellen Impfbericht der Generaldirektion für Gesundheit von Ende Oktober geht hervor, dass 86 Prozent der über 10 Millionen Einwohner*innen bereits zweimal gegen Covid-19 geimpft sind – weltweit ein Spitzenwert. Selbst junge Menschen folgten dem Rat der Regierung und ließen sich immunisieren. In der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen haben bereits 90 Prozent die erste und 86 Prozent die zweite Dosis erhalten.
Seit dem 1. Oktober gibt es in Portugal keine Einschränkungen mehr. Bars, Restaurants und Clubs sind wieder so voll wie eh und je. Festivals finden statt. Allein das globale Hi-Tech-Event Websummit vom 1. bis 4. November lockte 40.000 Besucher*innen aus allen Teilen der Welt nach Lissabon. Selbst die Verpflichtung zur Vorlage eines digitalen Impfzertifikats ist gefallen, weil sie nicht mehr für notwendig erachtet wird.
Dabei herrschte in Portugal fast ein Jahr lang der Ausnahmezustand. Die Polizei kontrollierte streng. Seit Beginn der Pandemie wurden mehr als 1.000 Menschen wegen Ungehorsams festgenommen, über 3.500 bestraft.
Doch diese Zeiten sind vorbei. „Es ist die politische Kultur, die zum Erfolg der Impfkampagne beiträgt“, sagt Antonio Costa Pinto, Professor am Institut der Sozialwissenschaften an der Universität Lissabon im Gespräch mit der taz. „Die portugiesische Gesellschaft hat traditionell großen Respekt vor dem Staat und folgt seinen Entscheidungen“, sagt er.
Doch das sei nicht die einzige Erklärung für die hohe Impfbereitschaft der Portugies*innen, meint Costa Pinto. Es gebe auch eine gute Zusammenarbeit zwischen dem nationalen Gesundheitswesen und den lokalen Behörden. Ein Admiral habe den Prozess in logistischer Hinsicht wie eine Militäroperation angeführt.
Henrique Gouveia e Melo, der eine Taskforce aus Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen und Armeeangehörigen geleitet hat, blickt durch eine militärische Brille auf die Pandemie. „Das Erste, was man macht, ist, das Ganze wie einen Krieg zu betrachten“, sagte er in einem Interview.
Das gute Verhältnis, dass viele Portugies*innen zu ihrem Militär haben, ist historisch begründet. Schließlich war es die Armee, die am 25. April 1974 in der Nelkenrevolution der Diktatur des Estado Novo ein Ende setzte. Daher verwundert es auch nicht, dass weite Teile der Gesellschaft den führenden Einsatz des Militärs im Kampf gegen Corona begrüßten.
Unter Vizeadmiral Gouveia e Melo wurde die Impfkampagne neu organisiert. Rund 300 Impfzentren im Norden und Süden des Landes wurden eingerichtet, die meisten von Zivilisten betrieben. Im größten Impfzentrum Lissabons, dem Pavillon drei des Universitätsstadions, impft jedoch ausschließlich Militärpersonal. Das spare viel Zeit, zitieren portugiesische Medien Kapitän João Aniceto, Leiter des Impfzentrums. Angesichts der raschen Ausbreitung der Deltavariante wurden seit Anfang Juli in Portugal bis zu 160.000 Impfdosen täglich verabreicht.
Die Zentralisierung des nationalen Gesundheitssystems in Portugal erleichtert es, Menschen schnell zu erreichen. Jede Person besitzt eine sogenannte Gesundheits-ID, auf deren Daten die Behörden Zugriff haben. Eine Kampagne per SMS begann, zuständige Teams riefen die Menschen an, um sie zur Impfung zu ermutigen und gegebenenfalls zu erfahren, warum jemand noch nicht vorbeigekommen ist.
Das Angebot, sich den Schuss gegen Covid-19 abzuholen, richtete sich in Portugal nicht nur an die einheimische Bevölkerung, sondern auch an Einwanderer*innen, die sich ohne eine Aufenthaltsgenehmigung im Land befinden. Anfang des Jahres hat die Regierung vorläufig mehr als 350.000 Einwanderer*innen legalisiert. Die Ausländerbehörde hat zwar noch nicht für alle eine endgültige Entscheidung über ihre Zukunft getroffen. Doch aufgrund von zwei Regierungsbeschlüssen haben sie nun Zugang zu allen öffentlichen Dienstleistungen, wie Sozialversicherung, dem Abschluss von Miet- und Arbeitsverträgen sowie zum nationalen Gesundheitssystem. Nach Angaben von Henrique Gouveia e Melo seien so 85.000 Personen mit einer Corona-Impfung erreicht worden, deren Status in Portugal nicht geregelt gewesen sei.
In diesem Zusammenhang weist der Sozialwissenschaftler Costa Pinto darauf hin, dass die Zivilgesellschaft in Portugal eher schwach entwickelt ist. Genau dieser Umstand habe der Regierung in Sachen Covid-19-Impfung in die Hände gespielt. So seien Anti-Impf-Bewegungen oder Verschwörungsmythen weitestgehend irrelevant gewesen.
Die Impfkampagne läuft derzeit schon wieder auf Hochtouren. Personen, die Anspruch auf eine Boosterimpfung haben, sind bereits dazu aufgerufen worden – zusammen mit einer Impfung gegen die Grippe. Von den 1,5 Millionen Berechtigten – Menschen im Alter von über 65 Jahren, deren Impfung mindestens sechs Monate zurückliegt –, wurden 351.000 bereits zum dritten Mal geimpft, vor allem in Apotheken und Impfzentren.
Damit will Portugal weiter Spitzenreiter bleiben – getreu der Devise: Alle Wege führen nach Lissabon. Vom 2. bis 4. Dezember finden in Lissabon in der Altice Arena mit 20.000 Plätzen vier Konzerte von André Rieu statt. Drei davon sind bereits ausverkauft. Dank der hohen nationalen Impfrate fühlt sich der Geiger mit seinem Orchester in Portugal sicher. Rieu möchte, dass das Publikum die Shows mit einem Lächeln auf den Lippen verlässt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen