Die Wahrheit: Eine Tonne Gin für die Queen

Das Vereinigte Königreich führt als Brexitfolge alte Maße wieder ein. Sehr alte Maßeinheiten aus fernen Tagen voller nebliger Mythen.

Illustration: Ein Mann fragt einen Drachen: „Well, die Feuerzeuge sind aus. Der Brexit, you know. Im Gedenken an die gute alte Tradition: Hast Du vielleicht mal Feuer?"

Illustration: Dorthe Landschulz

Hogshead, Faggot, Oredish, Wey.“ Murmelnd geht Martin Dierrebot die Liste der ungewohnten britischen Maßeinheiten durch. Der französische Zollinspekteur wirkt neuerdings als metrischer Verbindungsoffizier an der EU-Außengrenze zum Vereinigten Königreich. In einem kleinen Büro im Hafen von Calais rechnet er die Gewichts-, Längen- und Raummaße der Europäischen Union in die imperialen Maße der Briten um.

Nachdem Großbritannien das Joch kontinentaler Bevormundung abgeschüttelt hat, will es vollständig zu den traditionellen Einheiten der angelsächsischen Welt wie der Unze und dem Büschel zurückkehren. Diese überlieferten Maße Albions basieren nicht auf dem allzu leicht durchschaubaren Dezimalsystem der tumben Europäer, sondern auf erhabener Zahlenmystik aus König Arthurs Zeiten und der stolzen Ignoranz einer begüterten Oberklasse, die ohnehin nicht zu rechnen braucht.

Die unnötig komplizierten Maßeinheiten sollen dem Rest der Welt britische Eigenständigkeit demonstrieren, Unbefugte vom Besuch der nebligen Inseln abschrecken und dem Königreich seine von Brüssel geraubte Seele zurückgeben. In absehbarer Zukunft dürften nach dem Abzug der Eurokraten auch andere blutig unterdrückte Bräuche wie die Fuchsjagd auf Iren und das Catweazle-artige Druidentum auf den britischen Inseln aufleben.

Die verhassten „Maße Napoleons“, als die Premier Boris Johnson die metrische Gleichmacherei auf dem Kontinent einst geißelte, haben sich einfach als zu klein für das gewaltige britische Weltreich erwiesen, das in seiner größten Ausdehnung von den Klippen Dovers bis zu den Shetlandinseln immerhin 4.134 Furlong, 175 Fathom und ein Barleycorn misst. „Das sind umgerechnet 37 Zentimeter“, ergänzt Martin Dierrebot mit unsicherem Blick auf seine Umrechnungstabelle.

Der CE-genormte Eichstrich auf dem Pintglas, für den der kaum pintgroße Korse in der berühmten Bierschwemme vor Waterloo so bitter gefochten hatte, ist im United Kingdom schon Geschichte. Auf dem schaumlosen Bier der Engländer prangt wieder der majestätische Crown Stamp.

Die Umrechnung in Euro wird als Häresie streng verboten

Das uralte Eichmaß geht auf König Æthelfling den Bodenlosen zurück, der 834 ein dänisches Wikingerheer im Alleingang in die Flucht unter den runden Tisch seiner Tafelrunde soff. Bis heute wird die Begebenheit jeden Sommer auf der Fähre von Skegness nach Kopenhagen von interessierten Laien nachgespielt, und Æthelflings irdenes Trinkgefäß kann noch heute in der St. Pissed-Kathedrale zu Hammered-upon-Tyne besichtigt und von Jungesellengruppen gegen Schutzgebühr von „Thruppence“ (Die Umrechnung in Euro als Häresie streng verboten) zur Stag Night ausgeliehen werden.

Die Mindestgröße ginhaltiger Mischgetränke zur Mittagsstunde wird in englischen Herrensitzen dagegen unverändert in Bowes-Lyon gemessen. Ein Bowes-Lyon entspricht dabei einer Bruttoregistertonne und damit exakt dem Fassungsvermögen der verblichenen Queen Mum an einem durchschnittlich langweiligen Tag auf Schloss Balmoral.

Zollinspekteur Dierrebot macht sich inzwischen an einem Autozug zu schaffen. Mehrere Hundert Kiepen fabrikneuer Limousinen sollen nach England verschifft werden, doch der Zöllner findet nur gänzlich unbekannte Begriffe wie „Vauxhall“ oder „Leyland“ in der britischen Tabelle. Offenbar Maßeinheiten, die aus fernen Jahrhunderten stammen, als die Sonne über den Autofabriken des Empire niemals unterging. Modernere Maße des viktorianischen Zeitalters wie „Hundredweight“, das walisische „Hobbit“ oder der „Truss“ finden ebenfalls keine Anwendung, sie gelten bloß für bewegliche Agrargüter wie Heuballen, Federvieh und Frauen.

Ein Telefonat mit einer Logistik­historikerin der Universität Oxford bringt ebenfalls nicht die erhoffte Lösung. Vielmehr macht die Gelehrte auf ein weiteres Problem aufmerksam. „Die Spurbreite der Wagen ist im ­Königreich nicht zugelassen. Das angelsächsische Gewohnheitsrecht schreibt einen Radabstand von zwei „cútægl“ – also zwei Kuhschwänzen – für Heu- und Streitwagen vor. Mit dem Brexit ist diese frühmittelalterliche Regelung automatisch wieder in Kraft getreten. Ein Import ist leider nicht möglich.“

Gestiegene Gaspreise führen zu Versorgungsengpässen

Kein Einzelfall. Trotz aller Bemühungen des findigen Zöllners Dierrebot stapeln sich im Hafen von Calais die Importgüter. Kontinental geprägte Gebinde wie etliche Tonnen mediterranes Gemüse, ein Schock illegaler Einwanderer, ein paar Dutzend Hüttenzentner Stahl und hundert Zaspeln Nähgarn bleiben genau wie die Automobile in den Lagerhallen von Calais hängen, bis eine angelsächsische Entsprechung gefunden ist. In britischen Supermärkten gibt es wegen dieser Verzögerungen an den Grenzen fast nur noch heimische Produkte wie Nieselregen oder Malz­essig zu kaufen, auch wenn die britische Regierung die massiv gestiegenen Gaspreise für solche Engpässe verantwortlich zu machen sucht.

Abhilfe soll nun eine Initiative schaffen, die ausgerechnet der ehemalige Brexit-Chefunterhändler Lord Frost auf den Weg gebracht hat. Der neunte Earl of Hedgefonds und jetzige Minister für die Vergrämung von EU-Institutionen hat die besten Köpfe des Landes zu sich gerufen, um die veralteten imperialen Maße einer Modernisierung zu unterziehen. Die besten Köpfe des Landes allerdings hatten verständlicherweise Besseres zu tun, so dass bloß die landesübliche Mischung aus Komikern, Exzentrikern und Verrückten dem Ruf aus Westminster gefolgt ist.

Bereits um die Jahrtausendwende hatten old fashioned Prominente wie John Cleese und Joanne K. Rowling als „Metric Martyrs“ märtyrerhaft für das bedrohte nationale Wiegen und Messen gekämpft. Nun arbeiten diese kreativen Köpfe mit der konservativen Regierung an Maßeinheiten für das Großbritannien des 21. Jahrhunderts, die gemütlich altmodisch klingen, auch wenn sie garstig neoliberale Zumutungen beziffern.

Mit „Driggle-draggle“ wird künftig die Abwanderung qualifizierter osteuropäischer Facharbeiter von der Insel gemessen, die Zahl eilig erteilter Visa für auswärtige Billiglöhner im Lkw dagegen in „Kerfuffles“. Der „Sillyputtle“ bezeichnet wiederum das Defizit im öffentlichen Gesundheitssystem NHS, während die Folgen der Regierungsarbeit in „Bollocks“, die Egos ihrer Minister aber in „Pillocks“ gemessen werden. Bloß die berühmte Längeneinheit „Biggus Dickus“ (umgerechnet 86 Zentimeter) hat sich der extrovertierte Premierminister Boris Johnson für eher private Anlässe der dicken Hose wie Parlamentsdebatten, Betriebsfeiern und Clubabende vorbehalten.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.