: Gnadenlos ausgeliefert
Wiedergelesen: Der große amerikanische Autor David Foster Wallace beschreibt in seiner Reportage „A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again“ Glanz und Elend der Kreuzfahrtindustrie
Von Nadine Conti
Seit Jahren kann ich keinen Lido mehr betreten, ohne an diesen Satz zu denken: „Ich habe erfahren, wie Sonnenmilch riecht, wenn sie auf 21.000 Pfund heißem Menschenfleisch verteilt wird.“ Der steht ziemlich am Anfang des Essays „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ von David Foster Wallace (Originaltitel: „A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again“).
Das gehört ja zu den Glücksmomenten jedes Schreibenden und Lesenden: Diese eine kleine, fies präzise Beobachtung, diese eine schrecklich gelungene Formulierung zu finden und in jemandes Hirnwindungen zu dübeln, wo sie fortan glucksend ihr Unwesen treibt. Wallace ist Großmeister darin, jedes seiner Bücher ist voller Sätze, die man anstreichen möchte.
Dabei ist diese Kreuzfahrt-Nummer – rückblickend betrachtet – ein ziemlich fieses Menschenexperiment. Das Harper’s Magazin hatte damals (1995) den vielversprechenden Autor ganz kurz vor seinem großen Durchbruch (sein bedeutendster Roman „Infinite Jest“ erschien 1996) auf eine einwöchige Karibikkreuzfahrt geschickt. Eine harte Probe für einen Mann, der zeitlebens unter sozialen Ängsten und Depressionen litt, die er zeitweise mit sehr viel Alkohol und Marihuana in Schach zu halten versuchte.
Trotzdem – oder gerade deswegen – ist dabei einer der klügsten und lustigsten Texte herausgekommen, der je zum Thema geschrieben wurde. Das liegt vor allem daran, dass Wallace sich das verkneift, was ein Autor kleineren Kalibers an seiner Stelle getan hätte: Billige Gags zu schinden, in dem er sich über die dummen Touri-Massen lustig macht und sich moralisch über sie erhebt.
Natürlich erfasst seine präzise Beobachtungsgabe genau das: die stumpfe Herdentierhaftigkeit beim Einschiffen oder beim Landgang. Die idiotischen Nachfragen an der Rezeption. Die bescheuerten Gespräche beim Dinner. Die scheußliche Kleidung. Die noch scheußlichere Unbekleidetheit altersdeformierter Körper. Aber natürlich ist Wallace zu klug, um nicht zu begreifen, wie sehr er ein Teil dieser Herde ist, egal was er anstellt.
Aber dann schwärmt er ja auch wieder und schwelgt seitenlang: In diesen Farben, diesem Essen, dieser Technik, diesem Luxus, diesem Service. Und zeichnet die liebevollsten Miniaturen vom Personal – seinem Lieblingskellner, seiner Kabinenstewardess – oder exzentrischen Gästen.
Nebenbei skizziert er mit leichter Hand in den ausufernden Fußnoten, für die er berühmt ist, die irrwitzigen Konkurrenzkämpfe zwischen den verschiedenen Reedereien, das rassistische Kastensystem, dem die Bediensteten unterworfen sind, oder referiert Trivia zum „Weißen Hai“.
Und während er so Feuerwerke entzündet, Motive antickt und liegen lässt, weiterhüpft und zurückkehrt, die Laune steigen oder sinken lässt, genauso wie der Wellengang das Schiff „rollen“ oder „stampfen“ lässt, schält sich allmählich das eigentliche Thema des Essays heraus. Nämlich: Was das gnadenlose Ausgeliefertsein an diese unpersönliche Vergnügungsindustrie mit Menschen macht.
Wallace seziert das Marketinggeraune des Schifffahrtkataloges, die endlosen Suggestionsschleifen der Schiffsdurchsagen und Bordmagazine, die Abgründe hinter dem sogenannten Professional Smile, dem Servicelächeln.
Er beobachtet genau, was das permanente Verwöhntwerden, die Totalverhätschelung, die jede Entscheidung überflüssig macht, aus ihm selbst macht: ein quengelndes Kind, das immer noch mehr will und niemals, niemals zufrieden ist.
Er schildert lustvoll die Verfolgungsfantasien, die sein unterbeschäftigtes Gehirn befallen, die grotesk scheiternden Versuche, sich dem Unterhaltungsprogramm hinzugeben, übertreibt schamlos sein hinreißendes Talent, sich zum Trottel zu machen – und landet am Ende doch auch immer bei dem, was darunter, dahinter verborgen liegt: die Angst und die Einsamkeit und die Verzweiflung, die zum Menschsein gehört.
Das wiederum sind die Themen, die ihn immer beschäftigt haben, später noch dringender und härter, nicht mehr so leichtfüßig wie hier. Einige Passagen erinnern schon an die Motive, die er später in seiner berühmten Rede vor College-Absolventen, „This is water“, weiter ausarbeiten wird. Die ist großartig, aber auch herzzerreißender und moralischer, wie sich überhaupt alles schwerer liest (seine Romane sowieso), wenn man seinen Suizid mit nur 46 Jahren im Hinterkopf hat.
In „Schrecklich amüsant“ aber ist Wallace in Topform, jung, klug, witzig, voller Energie – ein Reisegefährte, wie man ihn sich wünscht, wenn auch vielleicht nicht unbedingt auf einem Schiff.
David Foster Wallace: „A Supposedly Fun Thing I‘ll Never Do Again“, Essays and Arguments, Little, Brown Book Group 1998, 368 S.
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