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„Linksherumtanzenistteuflisch“

Im Mittelalter gab es das Phänomen der Tanzwut. Am Veitstag etwa wurde in süddeutschen Kirchen die Nacht durchgetanzt. Der Historiker Gregor Rohmann erklärt daran kulturelle Verzerrungen, die bis in die Clubnächte von heute reichen

Szene aus dem Film „Paracelsus“. Regie: Georg Wilhelm Pabst, Deutschland 1943 Foto: ullstein bild

Interview und Texte Jenni Zylka

taz am wochenende: Herr Rohmann, was ist Tanzwut?

Gregor Rohmann: Tanzwut ist ein moderner Begriff, der von dem Medizinhistoriker Justus Hecker im 19. Jahrhundert geprägt wurde. Im Mittelalter hat ihn niemand benutzt. Damals hatte man andere Worte, man nannte es Veitstanz oder „das böse Tanzen“. Im heutigen Süddeutschland und am Oberrhein war die Tanzwut zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert ein auch von Ärzten anerkanntes Krankheitskonzept: Einige Menschen verspürten den Zwang zu tanzen, in aller Regel tanzten sie einmal im Jahr in bestimmten Kirchen die Nacht durch, um sich von diesem Zwang zu befreien.

Belegt sind Tanzwut-Fälle im 11. Jahrhundert, und dann im 14. bis 16. – wieso zu diesen Zeitpunkten?

Im 11. Jahrhundert entstand eine Legende, die von unfreiwilligem Tanz erzählt. Sie spielt in Kölbigk bei Bernburg in Sachsen-Anhalt. Diese Geschichte wurde dann von Pfarrern weitergegeben, etwa als Warnung vor dem Tanz, und damit sehr populär. In Predigtsammlungen aus den Jahrhunderten danach findet man sie regelmäßig, und auch die Idee des unfreiwilligen Tanzens wurde so verbreitet, als eine Art Grundmythos. In späteren Jahrhunderten entstanden Tanzwallfahrten, bei denen zu zwei bestimmten Terminen im Juni, dem Veits- oder Vitustag und dem Johannestag, in Kirchen getanzt wurde.

Warum war das Auftreten der Tanzwut räumlich begrenzt?

Das könnte damit zusammenhängen, dass in dieser Gegend zwei Kultureinflüsse aufeinandertrafen: die französische und die deutsche. Frankreich ist schon in der Spätantike christianisiert worden, dort und im früheren römischen Teil des Rheinlands hatte das Christentum eine andere Einstellung zum Tanz: Tanz war als Form der Frömmigkeit eher anerkannt, als Mittel des Gebets. Im Rest Deutschlands war Tanz negativer besetzt, galt als unchristlich oder Teufelsverehrung.

Die christliche Kirche war immer gegen den Tanz?

Traditionell heißt es in der Kirchengeschichte, die Christen seien von Anfang an gegen den Tanz gewesen. Es gibt aber viele Beispiele, wie in der Antike Tanz als Gebet oder als Form der religiösen Kommunikation verwendet wird. Bekannt sind die Tänze in den Kathedralen in Reims, Chartres oder Paris im 14. und 15. Jahrhundert. Dort tanzten die Priester zu bestimmten Festtagen in der Kirche, oft führten sie einen Tanz in einem auf den Boden gemalten Labyrinth auf. Momentan versuchen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen zu belegen, dass das Christentum also doch tanzfreundlich gewesen sei. Aber bis heute wird im Christentum darüber gestritten. Über die Versuche, sakralen Tanz in der christlichen Messe zu etablieren, hat sich Kardinal Ratzinger mal sehr echauffiert. Der aktuelle Papst hat dagegen schon mehrfach öffentlich Tango getanzt.

Bei Wikipedia findet man alle möglichen Definitionen – was ist Tanzwut nicht?

Tanzwut gab es nicht überall oder im gesamten Mittelalter; sie war auch kein typischer Ausdruck mittelalterlicher Irrationalität. Die Tanzwut aus den alten Quellen ist nicht ansteckend, sondern betrifft nur bestimmte Menschen, wird zuweilen als erblich dargestellt. Die Idee der Ansteckung kam erst seit Paracelsus’ Beschreibung aus dem 16. Jahrhundert dazu. Mit Theorien wie einer möglichen „Mutterkornvergiftung“, die aus dem Verzehr von mit einem Pilz befallenen Getreide herrührt, wird versucht, ein vielschichtiges Phänomen mit einer simplen Diagnose zu erklären. Die Quellen geben das aber nicht her – die Menschen agierten nicht wie bei einer Mutterkornvergiftung, zum Teil verhandelten die mittelalterlichen Tänzer mit dem Stadtrat sogar darüber, dass ihnen ein Tanzhaus zur Verfügung gestellt wird.

War es also gar keine Krankheit?

Doch, aber heute weiß man, dass jede Krankheit kulturell spezifisch funktioniert, weil man sie unterschiedlich wahrnimmt. In einigen Gesellschaften wird beispielsweise ein Schnupfen sehr stark als Krankheit wahrgenommen, in anderen nicht. Bei uns ging man mit einem Schnupfen – jedenfalls vor Corona – weiter zur Arbeit. Das hat sich gerade massiv geändert. Bei psychischen oder psychosomatischen Krankheiten gilt das erst recht. In diesem Sinne ist Tanzwut auch damals als Krankheit wahrgenommen worden, sogar die kirchlichen Instanzen verwiesen die Betroffenen an die Ärzte.

In Ihrer Habilitationsschrift zum Thema haben Sie vor knapp zehn Jahren eine neue Theorie zur Tanzwut aufgestellt.

Vorher wurde das Phänomen meist sozialpsychologisch als Massenhysterie, oder als religiöse beziehungsweise ketzerische Widerstandsbewegung gegen die Kirche erklärt. Ich sehe das in den Quellen nicht, dafür lassen sich die Kranken viel zu einsichtig behandeln. Ich habe versucht, die geistesgeschichtlichen Hintergründe aufzuführen: Woher kommt die Idee, dass Tanz eine Krankheit sein könnte? Wo kommt es her, dass Tanz etwas mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott zu tun hat?

Und woher kommt es?

Aus der antiken Kosmologie und Philosophie, aus der Vorstellung, dass die ganze Welt ein ewiger Reigen um Gott ist. Alle Seelen, alle Engel, überhaupt alle Dinge der Welt kreisen um Gott, die Frage ist dann: Kann ich diesen ewigen Himmelsreigen auf der Erde nachvollziehen, indem ich auch um Gott kreise, also tanze? Unter den christlichen Theologen ist das immer umstritten gewesen, manche sagten: Ja, das geht, die meisten glaubten jedoch, dass die irdische Welt und der menschliche Körper zu verkommen sind. Der Versuch, den Himmelsreigen nachzuvollziehen, führt nach dieser Ansicht zu einem Zwangsverhalten – man kann nicht mehr aufhören zu tanzen, weil man den Kontakt zu Gott nicht hinbekommt. Der Tanz konstituiert quasi einen Schwellenraum von der irdischen zu himmlischen Welt. Man nennt das in der platonischen Philosophie „Chora“, den dritten Raum.

Hängt die Ausbreitung der Tanzwut auch damit zusammen, dass die Menschen im Mittelalter beeinflussbarer waren?

Die Idee des „dunklen Mittelalters“ kommt aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Mit der Aufklärung wurde ein Klischee für eine düstere, schlechte Zeit konstruiert, das sich bis heute hält: In Filmen, die im Mittelalter spielen, ist es immer herbstlich und regnerisch, dabei gab es im Hoch- und Spätmittelalter eine Warmzeit, da wuchs Wein bis in den Norden, bis nach Norwegen. Die Menschen wussten natürlich weniger als wir, aber in vielerlei Hinsicht auch mehr. Ob sie suggestibler, also beeinflussbarer oder irrationaler waren, darüber kann man keine Aussagen treffen. Die schriftlichen Quellen stammen bis zum 14. und 15. Jahrhundert fast ausnahmslos von Priestern. Also bekommen wir nur eine oberflächliche Information über das, was der Klerus gedacht hat, über die Bevölkerung wissen wir noch weniger.

Wer war am meisten von Tanzwut betroffen?

Im 19. Jahrhundert haben das ausschließlich weiße, bürgerliche Männer wie Hecker beschrieben, und das ganze Konzept war recht rassistisch, misogyn und rationalistisch. Man behauptete, die Tanzwut sei ein Frauenproblem, Frauen seien eben schwächer, man könne sie leichter beeinflussen – obwohl laut Quellen immer Männer und Frauen zusammen tanzten. Tanzwut wurde mit angeblich vergleichbaren Phänomenen im kolonialen Kontext gleichgesetzt – der Afrikaner hat den Rhythmus im Blut und ähnliche Klischees, man diagnostizierte die Tanzwut in Tunesien und Madagaskar, bei den Native Americans oder den Sufis. Damit wurde die Tanzwut zum Erklärungsmodell für alle möglichen Formen von Tanz, auch bei Erweckungsbewegungen in Kirchen in Nordamerika. In Trance zu geraten oder der Tanzwut zu verfallen, unterstellte man ausschließlich Heiden, Christen taten das nicht. Tanzwut wurde so zur Passepartout-Erklärung für alle Formen von körperlicher Expression.

Foto: Werner Maleczek

Gregor Rohmann

Der Historiker, geboren 1970, studierte Geschichte in Hannover und Göttingen, promovierte über die schwäbischen Fugger und wurde mit der Schrift „Tanzwut. Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines spätmittelalterlichen Krankheitskonzepts“ habilitiert. Er ist Gastprofessor an verschiedenen Universitäten und dekonstruiert momentan die Klaus Störtebeker-Piraten-Legende.

Inwiefern war das Verständnis auch erotisch aufgeladen?

Schon 1374 stand in verschiedenen rheinländischen Chroniken, dass die Frauen nach dem Tanzwut-Bewegung alle schwanger gewesen seien. Aber das ist ein Stereotyp, das Ketzern immer unterstellt wird: Sie seien alle promiskuitiv, und unter teuflischem Einfluss hätten sie die ganze Zeit miteinander Sex.

Auch ein Erklärungsversuch beim Rattenfänger von Hameln ist, dass die Menschen dort von Tanzwut befallen waren. War das Ganze vielleicht ein „Rhythmus, bei dem man immer mit muss“?

Auf diese prominente Legende hat man schon sehr viele verschiedene Erklärungsmodelle gesetzt, von Tanzwut über Massenhysterie bis hin zur Kreuzzugbewegung oder der sogenannten Deutschen Ostsiedlung. Es gibt natürlich durchaus eine suggestible Wirkung von Musik, seit der griechischen Antike ist das ein Thema in der Philosophie, Aristoteles hat zum Beispiel über die Wirkung des „Aulos“, der Flöte geschrieben – angeblich wirke sie je nach Melodie unterschiedlich auf Menschen, und bringe sie auch zum Tanzen. Manche modernen Tanzwissenschaftler beschäftigen sich mit der beeinflussenden Wirkung von Musik im Clubzusammenhang. Einer hat mir das mal so erklärt, dass man bei rhythmischen Bewegungen seine Körpergrenzen erfährt, und wenn man das repetitiv in einer Gruppe mache, habe es eine anregende Wirkung. Die Frage ist dennoch, ob das damit eine Krankheit ergibt.

Weiß man etwas, welche Schritte oder „Moves“ damals gemacht wurden?

Aus dem 16. Jahrhundert gibt es einige Bilder, auf denen sieht das sehr krampfartig aus, in einigen Beschreibungen wird es auch als schmerzhaft beschrieben. Andererseits hat man zu Spielmannsmusik in Gruppen getanzt und zur Orgel – man weiß aber nicht wirklich, zu welchen Rhythmen. Aber aus dem Frühmittelalter, dem 8. Jahrhundert, stammen ein paar Lieder, von denen man weiß, dass zu ihnen getanzt wurde – anhand der Texte und des Versmaßes nimmt man darum immerhin einen Kreisreigen an: Zur Strophe tanzt man im Kreis, beim Refrain wurde der Kreis aufgelöst. Ganz wichtig war, in welche Richtung der Kreis ging: Die Sonne zieht von links nach rechts über den Himmel. Darum darf man nicht linksherum tanzen, das wäre teuflisch.

Was hat man aus der Tanzwut gelernt?

Gerade am Tanz von Kölbigk und seinem Kontext kann man sehr gut beobachten, wie unser modernes Verständnis von Individualität entsteht, mit dem Ideal der Statik und Distanz zur Umwelt, während vorher Bewegung und ständiger Austausch prägend sind. Das wird im Grunde schon im 11. Jahrhundert verhandelt, dass der Mensch sich nicht mehr in einer dynamischen Wechselwirkung mit dem Kosmos sehen soll, sondern als Einzelseele, die allein und statisch im Körper als ihrem Tempel hockt und über Gott nachdenkt. Als Rezeptionsphänomen hat die Tanzwut, die „Choreomanie“, zudem in der Moderne eine große Rolle gespielt, wenn es darum ging, popkulturelle Phänomene zu disqualifizieren, von der Elvis- und Beatlemania bis hin zur Love Parade: Die Assoziation fiel nochmal im Zusammenhang mit der Tragödie von Duisburg. Inzwischen sind Popkultur und Tanz- oder Clubmusik aber zu sehr anerkannt, nur noch reaktionäre Spinner disqualifizieren das.

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