: Den eigenen Körper geben
Spende für die Wissenschaft: Studierende der Medizin üben an Leichen ihre ersten Schnitte
Ein Gedenkstein steht auf dem Friedhof in Groß Grönau in der Nähe von Lübeck, die Inschrift lautet: „Sie halfen im Tod den Lebenden – wir danken und gedenken.“ Vor dem Stein liegt ein Kranz mit einer Schleife, auf der zu lesen ist: „Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen. Es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.“ Die Texte lassen ahnen, dass es sich hier um eine besondere Begräbnisstätte handelt: In diesem anonymen Urnengrab sind Menschen beigesetzt worden, die zu Lebzeiten bestimmt haben, dass sie nach ihrem Tod an das Anatomische Institut Lübeck überführt werden. Sie spenden ihren Körper, damit Studierende der Medizin an ihnen ihre ersten Schnitte üben, Sehnen und Muskeln freilegen und so den menschlichen Körperbau besser verstehen können. Ärzte probieren an ihnen neue Operationstechniken aus.
„Mir ist zu Lebzeiten von der Medizin geholfen worden. Dafür will ich mich bedanken, indem ich meinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stelle“ – solche Begründungen hört Institutsleiter Jürgen Westermann von Spendern häufig. Bei Alleinstehenden spielt oft eine Rolle, dass sie als Körperspender alles für den Fall ihres Todes geregelt haben, auch das Finanzielle: 1.300 Euro müssen sie in Lübeck im Voraus für Überführung, Einäscherung und Beisetzung zahlen. Werbung muss Westermann nicht machen – jährlich kommen in Lübeck rund 100 neue zu den bestehenden etwa 2.700 Körperspendern hinzu.
Sie haben schriftlich ihre Bereitschaft erklärt, ihren Körper nach dem Tod dem Institut für Anatomie zu überlassen. Diese Erklärung kann jederzeit ohne Begründung zurückgenommen werden. Während es in Lübeck weder eine Altersobergrenze noch ein Mindestalter gibt, müssen Spender des Anatomischen Instituts Münster mindestens 50 Jahre alt sein – aus Rücksicht auf Studierende, die von einer jungen Leiche geschockt sein könnten.
An der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) führt Andreas Schmiedl als Leiter des Vermächtniswesens die Gespräche mit Personen, die Näheres zum Thema wissen wollen. Dabei betont er, dass eine Beerdigung meist erst zwei Jahre nach dem Tod möglich ist – kurz nach dem Tod wird die Leiche in der MHH in Alkohol fixiert und darf knapp ein Jahr nicht angerührt werden. „Manche Angehörigen haben daran zu knabbern, dass sie so lange auf ein Grab warten müssen. Deshalb empfehlen wir potenziellen Spendern, zunächst mit der Familie über dieses Thema zu sprechen“, sagt Schmiedl. An der MHH werden die Angehörigen nach dem Ende des Präparierkurses zu einer Gedenkfeier eingeladen, an der Studierende und Dozenten teilnehmen, um ihre Dankbarkeit für die Körperspende zu zeigen. Schmiedl: „Diese Feier kann ein Trost für die Hinterbliebenen sein.“
In Halle arbeiten Studierende der Medizin in Sechsergruppen an einem Seziertisch. Außer Todesursache und Todesalter erfahren sie nichts über den Spender. Der Kopf wird bewusst nicht abgedeckt – es soll immer sichtbar sein, dass es sich um einen einzigartigen Menschen handelt. Vier Monate dauert der Kurs. Dreimal die Woche je drei Stunden wird ein Körper zerlegt, entnommene Teile werden neben der Leiche abgelegt.
„Es kommt vor, dass junge Leute anfangen zu weinen oder rauslaufen“, sagt Heike Kielstein, Direktorin des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Uni Halle-Wittenberg. „Wir machen ihnen klar, dass sie gute Ärzte werden können, auch wenn sie mit dieser Situation Probleme haben. Ich persönlich würde eher zu einem empathischen Arzt gehen als zu jemandem, der einfach drauflosschneidet.“
Nicht als Körperspender werden Organspender oder Personen mit schweren infektiösen Krankheiten akzeptiert – auch HIV-positive Menschen. Matthias Stoll, Facharzt für Infektiologie und Oberarzt an der MHH, kritisiert dies scharf und spricht von einer diskriminierenden Regelung: „Über die Sinnlosigkeit des Ausschlusses sollte man nicht streiten können, denn die HIV-Infektion ist nicht hochansteckend; die Beachtung einfachster Grundregeln der Hygiene mit menschlichem Gewebe ist professioneller Standard und schützt ausreichend.“ Joachim Göres
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