: Die Kunst der Freudenbiografie
Ein bewusster Umgang mit der eigenen Vergangenheit, dem eigenen Leben, hilft auch bei der Auseinandersetzung mit dem Tod
Von Kristina Simons
Jeder Mensch kennt gute und schlechte oder zumindest weniger gute Zeiten. Entscheidend ist, dass wir uns die positiven Erfahrungen immer wieder bewusst machen. Ein Rückblick auf Erfolge, gemeisterte Krisen und gute Erfahrungen kann uns helfen, Lebensfreude und Lebenssinn wiederzufinden, sagt die Psychologin Verena Kast. „Der Zugang zu unseren Erinnerungen ist von Emotionen und Themen abhängig, die uns aktuell beschäftigen“, schreibt sie in ihrem Buch „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben“. „Haben wir gerade an etwas Negatives gedacht oder etwas Bedrückendes wahrgenommen, werden wir eher auch wieder an Schlimmes aus unserer Lebensgeschichte denken und bedrückende Erinnerungen erzählen.“ Genauso kann es aber auch mit schönen Erlebnissen sein. Kast rät deshalb dazu, mit einem positiven Blick auf die eigene Biografie zu schauen und sich dadurch mit der eigenen Geschichte zu versöhnen.
Zum Beispiel indem man eine Freudenbiografie schreibt. Die Frage, wie und in welchen Situationen man im Leben Freude und Stolz erlebt hat, steht dabei an erster Stelle. „Die freudigen Situationen werden in der Vorstellung noch einmal erlebt, man versenkt sich in sie“, so Kast, „und erlebt dabei wieder Freude.“ Auch wichtige, schwierige Veränderungen im Leben würden dadurch sichtbar und sogar greifbarer. Die emotionale Erinnerung an Freuden helfe, das Leben nicht nur mit den Schwierigkeiten, sondern auch im Geglücktsein wahrzunehmen, erläutert die Autorin.
Wem es schwerfällt, sich an das Gute im eigenen Leben zu erinnern, helfe es, sich präzise Fragen zu stellen: Was hat mir gestern oder heute Freude gemacht? Wie hat sich das angefühlt? Wie hat es meine Stimmung beeinflusst? „Wichtig ist zu beachten, dass es vor allem die kleinen Freuden sind, die uns den Alltag entscheidend verschönern und beleben können.“
Dass gute Erinnerungen sogar vor Depressionen schützen können, haben Wissenschaftler:innen der Universitäten Cambridge und London unter Leitung von Adrian Dahl Askelund gezeigt. In ihrer Studie forderten sie mehr als 400 Jugendliche mit depressiven Neigungen immer wieder dazu auf, sich an positive Ereignisse erinnern. Damit das besser gelang, gaben die Psychiater:innen den im Schnitt 14-Jährigen bestimmte Begriffe vor, mit denen sie möglicherweise schöne Erlebnisse und Momente verbinden konnten. Nach einem Jahr wiederholten die Forscher:innen die Befragungen. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen, die sich während dieses Zeitraums regelmäßig an Schönes erinnert hatten, subjektiv weniger Anzeichen für eine Depression zeigten. Objektiv ließ sich das wiederum an einem gesunkenen Spiegel des Stresshormons Cortisol ablesen – dieser ist bei depressiven Menschen erhöht.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht sind Erinnerungen keine detailgetreuen Abbildungen der Vergangenheit, sondern komplexe Rekonstruktionen. Vergangenes wird interpretiert und im Licht der Gegenwart gesehen. Für die Psychologin und Sozialanthropologin Robin Lohmann hat das, woran wir uns erinnern, mehr mit dem Jetzt zu tun als mit der Vergangenheit. „Unsere Erinnerungen treten erneut in unser Bewusstsein, weil sie uns etwas sagen möchten, weil sie Botschaften für die Gegenwart in sich tragen“, schreibt sie in ihrem Buch „Was gestern war, hilft mir für morgen. Lebenskompetenz durch Erinnerung“. „Ob wir eine Erinnerung letztlich positiv oder negativ bewerten, hängt allein davon ab, wie wir sie aus heutiger Sicht bewerten. Bereichert sie unsere Gegenwart, hilft sie uns bei aktuellen Herausforderungen? Oder behindert sie uns in unserer Entwicklung, lähmt sie uns?“
Jede Erinnerung, egal ob spontan oder bewusst hervorgerufen, könne Geschenke mit sich bringen: Freude, persönlichen Lebenssinn, Identität und Selbstverständnis, Bewältigungsstrategien, Begleitung bei Umbruch und Wandel, Entdeckung persönlicher Potenziale oder Zukunftsorientierung. So helfe uns die Erinnerung an eigene Stärken, Fähigkeiten und Kompetenzen beispielsweise bei der Bewältigung unserer gegenwärtigen Aufgaben und Herausforderungen. Manchmal förderten unsere Erinnerungen auch bisher unentdeckte Potenziale zutage, deren wir uns gar nicht bewusst seien. „Es geht nicht darum, rückwärts zu leben, sondern darum, zurückzuschauen und sich dadurch weiterzuentwickeln.“
Das spielt auch in der Erforschung der Resilienz eine Rolle. Seit den 1950er Jahren spielt der Begriff, der ursprünglich die Widerstandsfähigkeit von Materialien beschreibt, eine Rolle in der Psychologie. Resilienz wird hier definiert als die Fähigkeit von Menschen, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.
Sich an Situationen zu erinnern, in denen man Schwieriges gemeistert und bestimmte Kompetenzen gezeigt hat, kann einen selbstbewusster machen und auch die eigene Resilienz stärken. Die Göttinger Resilienz Akademie rät deshalb dazu, sich einfach mal die eigene „Heldengeschichte“ zu erzählen.
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