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Akzeptieren, was zu einem gehört

Porträt des Schauspielers Paul Zichner: Ihm half eine Rolle auf der Bühne des Berliner Ensembles, seine eigene Zerrissenheit zu verstehen und zu überwinden

Von Aron Boks

Der Schauspieler Paul Zichner wurde für seine Hauptrolle in Stuckrad Barres „Panikherz“ am Berliner-Ensemble als bester Nachwuchsschauspieler nominiert. Er spielt derzeit in 5 Produktionen dort. Lange hatte er sich nicht in der Lage gesehen auch für den Film zu arbeiten, bis ihn eine Geschlechtsangleichung freimachte.

Wir treffen uns im Tiergarten.

Paul Zichner trägt Shorts, Hemd und hohe Adidas-Sportschuhe, er sieht starr geradeaus und spricht leise, während er von seiner „wirklich gänzlich fehlenden“ Beziehung zum Tiergarten redet. Mit der Sonnenbrille, die er immer wieder dicht an seine Augen presst, wirkt es so, als wolle er möglichst unerkannt bleiben.

„Quatsch, ich arbeite ja gerade erst daran, Filmstar zu werden!“, wehrt Zichner ab. Einen Kinofilm hat er gerade abgedreht, eine TV-Produktion steht bevor. Er spricht das St in Filmstar wie ein scht aus, für den Rest des Satzes fällt er unvermittelt ins Sächsische – das erinnert an seine Geburtsstadt Dresden und hat den Vorteil, manchen seiner Sätze schnell die Bedeutungsschwere zu nehmen.

Paul Zichner geht etwas schneller voraus. Dabei könne er gut sprechen, meint er, kein großes Hinsetzen bitte. Das wirkt vertraut – erinnert man sich an seine Paraderolle des „Stuckrad-Barre“ in der Inszenierung von dessen autobiografischem Roman „Panikherz“ am Berliner Ensemble.

Nach seinem Schauspielstudium in Frankfurt war er dort drei Jahre engagiert. Als das Stück „Panikherz“ 2018 in Berlin seine Premiere feierte, war er als „Stuckrad-Barre“ mit dabei.

In der Erarbeitung jeder Rolle suche er primär in sich selbst, sagt er – das bürge ungeheuer viel Potenzial, könne einem aber auch schaden, wenn man nicht die nötigen Mittel besitze, um sich vor dieser freigesetzten Energie mit Realität zu schützen.

„Aber immer, wenn du das zulässt, durchlässig und verletzbar bist, ja, wenn’s auf der Bühne nicht mehr nur ums Spielen geht – erst dann wird die Figur besonders“, sagt er.

Im Stück „Panikherz“ von Oliver Reese inszeniert nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman Benjamin von Stuckrad-Barre, der vor allem dessen Drogensucht und Essstörung thematisiert, spielt Zichner den Mittezwanzigjährigen Autor. In einer Szene wendet er sich dem Publikum direkt zu, deutet in die Reihen, um von Unruhe und Hyperaktivität zu erzählen. Dann, inmitten eines immer unverständlicher werdenden Monologs, fuchtelt er plötzlich mit beiden Armen und Beinen in der Luft herum, so heftig, dass es aussieht, als würde der junge Stuckrad-Barre zeitweilig ein wenig über dem Boden schweben. Dazu rappt er einen Text herunter – schnell und so wirr und authentisch, bis das Publikum begeistert zurückschreit und sich eine raumgreifende Hibbeligkeit breitmacht.

Diese Szene war nicht vorgesehen ­– Zichner hatte sie improvisiert und in den festen Teil der Inszenierung eingebaut. „Es geht in dem Stück ständig darum, von etwas auszubrechen, und ich wollte das auch. Und plötzlich gibt es eine Form – dann wird der Ausbruch der Figur zum eigenen. Das geht zusammen, dieses Stück und ich, es gehört irgendwie zu mir.“

Das Stück transportierte Zichners eigene innere Zerissenheit auf die Bühne und half ihm, da herauszukommen. Am Silvesterabend desselben Jahres 2018, in dem „Panikherz“ uraufgeführt wurde, stand für ihn fest, dass er sich mit Beginn des neuen Jahres bei seinen Eltern und seinem Arbeitgeber outen würde. Wenn er davon spricht, dann redet er von „dem Weg“, den er eigentlich schon zwanzig Jahre lang vor sich gesehen – aber umgangen habe. Er habe mit sich gehadert, nach Alternativen gesucht und „darauf gewartet, dass das weg geht“.s„Panikherz“ sei das Stück gewesen, das ihn auf diesem Weg begleitet und gestützt habe. Drei Jahre später wirkt die oben beschriebene Szene im Vergleich zur Premiere ernster, fast schon explosiv. Kol­le­g:in­nen und Zuschauer:innen, die ihn in derselben Rolle spielen sehen, sind begeistert von der zusätzlichen Energie, die aus der Figur tritt. „Ich habe das Gefühl, je sichtbarer ich als Mensch, als Mann wurde, desto sichtbarer wurde ich auch auf der Bühne“, sagt Zichner.

Wie auch jetzt nuschelt er nach Sätzen, in denen er sich lobt, ein hastiges „ohne eitel zu klingen“ hinterher. „Aber das ist schon krass“, sagt er. „Wenn ich so etwas gespiegelt bekomme, gerate ich an den Punkt, zu denken, dass dieser Weg auch meinem Beruf guttut. Dass ich mehr da bin.“

Zichner hat sich immer als einen Schauspieler des Feinen gefühlt. Als einen, der auf der Bühne nicht herumschreien müsse, um aus sich herauszukommen – ob das wirklich stimme, gelte es jetzt mit all der neuen Energie noch einmal zu überprüfen. Aber klar sei: Er selbst müsse grundsätzlich in der Lage sein, jede Rolle zu spielen, das sei Grundsatz des Berufs.

„Man hat ja auch den Anspruch an sich selbst als Schauspieler, zwischen Privatem und der Rolle trennen zu können. Ich stand manchmal heulend in der Garderobe, weil ich wieder ein Kleid tragen musste und mich wie ein Clown gefühlt habe. Aber du musst halt trotzdem deine Rolle spielen können, unabhängig vom Geschlecht oder von was auch immer.“

Dann, mitten im Park, deutet er doch auf eine Bank, verdoppelt wortlos das Schritttempo, bis er sich setzen kann, und führt seine Hände später so, als würden auch diese eine Choreografie aufführen. Vermutlich hat sich Zichner schon oft mit jemandem hingesetzt und das folgende Gespräch geführt.

Berliner Porträts

Die Reihe Um dem ganzen Kulturschaffen auch mal ein Gesicht zu geben, sollen hier auf den Seiten den Sommer über in unregelmäßiger Folge Berliner Künstler:innen porträtiert werden.

Die Folge Paul Zichner, Jahrgang 1989, lebt in Berlin. Seit 2017 spielt Zichner im Berliner Ensembles.

Vor seinem 30. Geburtstag war ihm klar, dass er nicht mehr mit einer Lüge leben wolle. Er schrieb im Frühjahr 2019 zuerst einen Brief an seine Eltern, kurz danach einen an seinen Chef – den Regisseur Oliver Reese, erst dann outete er sich vor dem gesamten Ensemble und begann im Mai 2019 mit der Hormonbehandlung.

Das Wort Lebenslüge benutzt er nicht, um sich selbst zu kasteien – im Gegenteil. „Ich glaube es ist verdammt wichtig, am Anfang so hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen, um sich von dem Alten zu lösen. Es braucht einfach Zeit, um zu akzeptieren, dass das auch zu einem gehört.“

Innerhalb eines Jahres hatte er sich eine Agentur gesucht und ein Portfolio mit Videos – und Bildmaterial angelegt – der Stoff, der Schau­spie­le­r:inn­nen schon beim Studium als essenziell eingetrichtert wird. Doch vor der Geschlechtsangleichung konnte sich Zichner nicht vorstellen, von einer Kamera konserviert zu werden.

Für seinen ersten Kinofilm wurde er angefragt, einen Trans-Mann zu spielen. Während er dieses Wort sagt, legt er den Kopf schief. „Eigentlich auch ein Scheißwort, oder? Man sagt das so, aber wieso brauch es dieses Vorwort?“

Er sagte für die Rolle zu. Und freut sich umso mehr, dass er danach die Zusage für eine Hauptrolle in einer anderen TV-Produktion bekam, die er gerade dreht und in der er einen „Cis-Mann“ spielt.

„Natürlich habe ich keine Lust als der Trans-Schauspieler zu gelten. Ich will es auch nicht als meine Hauptaufgabe sehen, eine Community zu betreuen oder Leute aufzuklären – klar, ich respektiere und wertschätze es, wenn sich andere Leute dies zur Aufgabe nehmen. Aber ich bin ein Mann, ich bin ein Schauspieler – das war’s schon. Ich will mich vor allem auf meinen Beruf konzentrieren, der noch so viel Unentdecktes für mich bereithält – meine verlorenen Jahre kriege ich schließlich nicht zurück!“

Paul Zichner ist am 14., 15. und 16. September in „Gespenster“ im Berliner Ensemble zu sehen

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