: Widersprüche im Urlaub
Es ist Corona, man verbringt die Ferien in Deutschland, die Familie kommt zusammen, man redet wieder nur beinahe miteinander – dieses Setting bildet den Hintergrund für Daniela Kriens neuen Roman, „Der Brand“
Daniela Krien: „Der Brand“. Diogenes, Zürich 2021. 272 Seiten, 22 Euro
Von Fokke Joel
Eigentlich wollten Peter und Rahel in die Bayerischen Alpen. Doch dann ruft der Ferienhausbesitzer an und sagt, dass die Berghütte, die sie sich ausgesucht hatten, abgebrannt sei. Kurze Zeit darauf noch ein Anruf. Ruth am Apparat, eine alte Freundin von Rahels früh verstorbener Mutter. Victor, ihr Mann, habe einen Schlaganfall erlitten. Sie wolle ihn in die Reha an die Ostsee begleiten und ob Peter und sie nicht für die drei Wochen ihr Haus in der Uckermark hüten könnten. Rahel sagt zu.
Daniela Kriens neuer Roman, „Der Brand“, fängt mitten in der Gegenwart an. Es ist die Zeit der Pandemie, in der das Dresdner Ehepaar ihren Urlaub im Inland und möglichst abgelegen verbringen will. Rahel ist 49 Jahre alt und betreibt eine psychotherapeutische Praxis; Peter feiert in der Uckermark seinen 55. Geburtstag und unterrichtet Germanistik an der TU Dresden. Außerdem sind da noch der gemeinsame Sohn Simon, der als Berufssoldat bei den Gebirgsjägern arbeitet, und die verheiratete Tochter Selma, die inzwischen zwei kleine Kinder hat.
Wie in ihrem vorigen Roman, „Die Liebe im Ernstfall“, wird der Leser schnell in die Geschichte hineingezogen. Als die beiden auf dem Anwesen des Bildhauers Victor und der Tänzerin Ruth ankommen, findet Rahel in Victors Atelier in einer Schublade Zeichnungen von sich als Kind. Auch ihre Mutter ist zu sehen, von der Rahel sagt, sie sei „eine Beinahe-Tänzerin, eine Beinahe-Schauspielerin, eine Beinahe-Ehefrau und abgesehen vom unleugbaren Fakt der zwei Geburten auch nur eine Beinahe-Mutter“ gewesen. Ist ihr Vater vielleicht doch nicht über Nacht verschwunden, wie ihre Mutter immer behauptet hat, sondern ist in Wirklichkeit Victor ihr Vater?
Obwohl diese Frage immer im Hintergrund als Spannungspol präsent bleibt, geht es Daniela Krien letztlich nicht um deren Beantwortung. Viel wichtiger ist ihr die Frage, wie es mit Rahel und Peter weitergeht. Seit einiger Zeit will Peter nicht mehr mit Rahel schlafen, und sie fragt sich, was das für ihre nun fast dreißig Jahre dauernde Beziehung zu bedeuten hat. Aber als Peter endlich bereit ist, mit ihr zu reden, kündigt sich ihre Tochter mit ihren beiden Kindern an. Selma, von der Rahel den Eindruck hat, dass sie mit ihrer Unbeständigkeit in die Fußstapfen ihrer eigenen Mutter tritt und ziemlich bald ankündigt, dass sie einen Liebhaber hat und nicht weiß, wie es mit ihrem Mann weitergehen soll. Ein Mann, den Rahel und Peter mit seiner Fürsorglichkeit und Beständigkeit als Glücksfall für ihre Tochter betrachten.
„Widerspruch ist ein Grundmoment des menschlichen Daseins“, lautet das Motto des Philosophen Ernst Cassirer, das Daniela Krien ihrem Roman vorangestellt hat. Auch in diesem Buch gelingt es ihr, die Widersprüche des Lebens plausibel anhand ihrer Figuren zu erzählen. Zusammen mit einem intelligenten Plot macht das Kriens Prosa auch ohne große stilistische Finessen lebendig und interessant. Allerdings ist die Bandbreite der Widersprüche in ihrem letzten Roman, „Die Liebe im Ernstfall“, größer gewesen. Das liegt wahrscheinlich an der dort gewählten Perspektive der allwissenden Erzählerin und den fünf unterschiedlichen Frauenfiguren. In „Der Brand“ erfährt der Leser alles aus der Perspektive von Rahel.
Vielleicht auch deshalb spielen die Verletzungen der Ostdeutschen nach der Wende eine größere Rolle. Auf den Vorwurf von Selma an die Eltern, warum nicht auch sie ein Haus auf dem Land hätten, erwidert Peter: „Weil wir Ossis sind. […] Niemand hat uns gelehrt, dass man bestenfalls das Geld für sich arbeiten lässt, anstatt selbst zu arbeiten. Die Grundregeln des Kapitalismus, liebe Selma, die haben deine Mutter und ich viel zu spät begriffen.“ Das ist zwar Figurenrede, bleibt aber unwidersprochen und klingt, als lebten alle Westdeutschen von ihren Kapitaleinnahmen.
Auch an der verpassten Chance, den Eltern vor ihrem Tod die wichtigen Fragen zu stellen, ist laut Rahel die Wende schuld: „Sie waren zu beschäftigt mit dem Wechsel des Systems, dem Umlernen, dem Lernen überhaupt, dem Geldverdienen, dem Kinderaufziehen, dem Reisen und Westlichwerden, dem Anpassen.“ Aber war es wirklich die Wende? Schließlich ist das Zu-spät für das klärende Gespräch mit den Eltern auch außerhalb Ostdeutschlands ein weit verbreitetes Phänomen.
Weil aber Daniela Krien erzählen kann und sie ansonsten das „menschliche Dasein“ überzeugend widersprüchlich schildert, lässt sich über diese Stellen hinweglesen – man kann sie als eine authentische Stimme aus dem Osten Deutschlands nehmen. Das gilt auch für den Untergang des Abendlandes, der hin und wieder durch das Buch weht. Zum Beispiel wenn Peter, der sich mehr als Rahel aus allem zurückzieht, als Lektüre Ernst Jüngers Widerstandsbuch „Der Waldgänger“ sowie Pasolinis Freibeuterschriften mit in den Urlaub nimmt, dessen These von der Zerstörung der Kultur durch den Konsum bei Rahel und Peter Einigkeit hervorruft.
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