: An der Quelle der Tonkunst
Von Igor Strawinsky zu Heiner Goebbels: Während die Donaueschinger Musiktage ihr 100. Jubiläum feiern, gibt es beim Musikfest Berlin Echos von Stimmen zu hören. Und in Leipzig widmet sich eine Veranstaltungsreihe der Abwicklung des Jugendradiosenders DT64
Von Robert Mießner
Welches E steckt in E-Musik? Ernst, Entertainment oder beides? Im Programm der diesjährigen Donaueschinger Musiktage schließt das eine das andere nicht aus. Das renommierte Festival für Neue Musik feiert Mitte Oktober sein 100. Jubiläum, was schon einmal keine Selbstverständlichkeit ist. Es war der 31. Juli 1921, als die ersten „Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ über die Bühne gingen, wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, nach einer abgewürgten Revolution und wenige Monate nach einem gescheiterten kommunistischen Aufstandsversuch.
Vorsicht mit vorschnellen Analogien, aber der Ruf der Sperrigkeit, der der Donaueschinger Musik anhaftet, wird auch aus dieser Zeit kommen. Andererseits ließe sich fragen, ob nicht die „Goldenen Zwanziger“ dort, an der Quelle der Donau, begonnen haben. Zu ihrem Hundertjährigen fahren die Donaueschinger Musiktage einen Marathon aus Konzerten, Gesprächen, Ausstellungen und Installationen auf. Das Programm schaut weit über den europäischen Tellerrand hinaus, die Beiträge kommen aus Südamerika, West- und Südafrika, dem Nahen Osten und Zentralasien.
Aus Norwegen steuert die Klangkünstlerin Maja S. K. Ratkje ihre Komposition „Considering Icarus“ für Posaune und kleines Orchester bei. Ein Stück über das Scheitern, gleich am Eröffnungsabend. Liegenbleiben ist nicht drin, an gleich drei Abenden spielt der Berliner Klangkünstler Hanno Leichtmann in der „Gravest Hits Lounge“ Donaueschingens Erfolge mit Boris Baltschun, Andrea Neumann und Magda Mayas an Klavier, Flügel und Modular Synthesizer. 1957 war Igor Strawinsky nach Donaueschingen gekommen – der russische Komponist, der seit 1920 in Frankreich gelebt hatte und 1940 in die USA gegangen war, dirigierte eine Aufführung seiner Ballettkomposition „Agon“ mit dem Südwestfunkorchester. Mit ebendiesem Stück eröffnet am 31. August das Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung Daniel Hardings und mit Renée Fleming als Sopran eine Strawinskys Spätwerk gewidmete Reihe des bis Mitte September laufenden Musikfests Berlin in der Philharmonie. Die Presseverantwortlichen haben übrigens ein göttliches Foto von Strawinsky gefunden, das ihn zeigt, wie er 1933 auf einem abgenommenen Citroën-Kühlergrill Lyra spielt.
Gute Musik findet halt ihr Material, sei es an einer Autokarosserie oder in einem imaginären Notizbuch: „A House of Call. My Imaginary Notebook“ heißt ein vierteiliger Zyklus mit Kompositionen von Heiner Goebbels, die das Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni auf dem Musikfest uraufführen wird: Echos von Stimmen, die Heiner Goebbels bewahrt hat; Stimmen, auf die der Komponist manchmal zufällig, dann wieder in Archiven, bei Projekten, Begegnungen oder Reisen gestoßen ist.
„Ich reise nicht mehr. Reisen, was für ein Interesse sollte das für mich haben?“, sagt der Performer David Bennent in einem zweiten neuem Stück von Heiner Goebbels, „Liberté d’action“, einem szenischen Konzert mit den Pianisten Hermann Kretzschmar und Ueli Wiget, das am 5. September im Großen Sendesaal des RBB aufgeführt wird. Das Konzert basiert auf Texten des belgisch-französischen Malers und Schriftstellers Henri Michaux; Goebbels selbst hat 1981 auf seiner ersten Single Bertolt Brecht und später etliche Male Heiner Müller vertont.
Es ist verlockend, über Heiner Goebbels’ Musik akademisch zu sprechen. Dabei lief sie Ende der 80er Jahre sogar im Radio zwischen den Pogues und The Clash, in der Sendereihe Parocktikum war das, die der Rundfunkkünstler und Journalist Lutz Schramm im DDR-Jugendradio DT64 moderierte. Goebbels’ Band Cassiber gehörte da zur Kunstfraktion des Programms, das ist ein Kompliment.
Davon, wie sich Anfang der 90er Jahre ein regelrechter Jugendprotest gegen die Abwicklung von DT64 formierte, erzählt die Leipziger Veranstaltungsreihe „Power von der Eastside! DT64 – Das Jugendradio und seine Bewegung“ von Mitte September bis Anfang 2022. Ausstellungen, Konzerte und Talks sollen erinnern, wie mit Demonstrationen, Straßenfesten, Konzerten, Raves, winterlichen Protest-Camps, Unterschriftensammlungen, Besetzungen und Mahnwachen damals eine vorläufige Erhaltung des Senders erreicht werden konnte. Über ein Viertel dieser Initiativen bildete sich übrigens im westdeutschen Empfangsgebiet von DT64, sagt Veranstaltungskurator Alexander Pehlemann.
Donaueschinger Musiktage: 14. bis 17.Oktober, Infos & Programm unter: www.donaueschingen.de/musiktage2021
Musikfest Berlin: 28. August bis 20. September, Infos & Programm unter: www.berlinerfestspiele.de/de/musikfest-berlin/start.html
Power von der Eastside! DT64: Bis Anfang 2022, Eröffnung: 16. September, 20 Uhr, in der naTo, Karl-Liebknecht-Str. 48, 04275 Leipzig, www.radioblau.de
Wüstes Herz im Ascheregen: 31. 8., 20 Uhr, Bildungszentrum Sebastian Haffner, vor der Bibliothek am Wasserturm, Anm.: bibliothek-am-wasserturm@ba-pankow.berlin
Den Auftakt der Reihe bildet am 16. September ein Abend in der Leipziger naTo, auf dem die ehemaligen Moderatoren Jörg Wagner und Frank Aischmann erzählen werden, wie sie am Freitag, dem 13. 9. 1991, für zwölf Stunden die Abschaltung von DT64 simulierten, inklusive einer Flucht des Radios durch einen vorzeitig eingebrochenen Winter. Spätere „Power von der Eastside“-Termine werden von Marion Brasch, der Schriftstellerin, Ex-DT64- und heutigen Radioeins-Moderatorin, und Rex Joswig von der Band Herbst in Peking bestritten. Unter dem Banner „Grenzpunkt Null“ produziert Joswig seit Langem Radiosendungen, in denen er Literatur und Musik aufeinandertreffen lässt, und veranstaltet das auch als Live-Radio.
Am Abend des 31. August lässt sich solch ein Auftritt persönlich erleben: Mit „Wüstes Herz im Ascheregen“ erinnert Joswig auf dem Hof des Kultur- und Bildungszentrums Sebastian Haffner, vor der Bibliothek am Wasserturm in Prenzlauer Berg, an den Schriftsteller Wolfgang Hilbig aus Meuselwitz, Thüringen. Hilbig, der tatsächlich ein schreibender Arbeiter war, 1985 die DDR verließ und der 1997 bemerkte: „vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, dass erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat werden lassen, die wir nie gewesen sind, jedenfalls nicht, solange wir dazu gezwungen waren.“ In den Spätsommer und Herbst von Berlin und andernorts gehört ein Gedicht Hilbigs mit dem Titel „sehnsucht nach einer orgel“. Wer weiß, vielleicht hat Joswig es in seinem Programm: „du denk dir was ich nicht sagen kann denk / meine sehnsucht nach einer seltnen musik / nach einer hymne / die ich nicht singen kann –“.
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