: Die neue Hoheit des Staates
Die Kapitalakkumulation darf nicht sich selbst überlassen werden. Dem Staat muss der Zugriff auf die vom ökonomischen System geschaffenen Verhältnisse ermöglicht werden
66, ist Professor emer. für Soziologie in Freiburg. Schwerpunkt: Theorie des sozialen Wandels. Zuletzt erschien von ihm: „Von allem Anfang an: Macht, nicht Gerechtigkeit“ (Velbrück Wissenschaft). Er lebt im badischen Titisee.
VON GÜNTER DUX
Die jüngste Krise des globalen Finanzsystems hat dokumentiert, was man bis dahin zwar wissen konnte, aber doch mühsam zu begründen suchen musste: Der Markt verfügt über keine Mechanismen, um die Ordnung der Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten. Im Gegenteil, die Ordnung kollabiert, wenn man das Interesse an der Kapitalakkumulation sich selbst überlässt. Selbst hartköpfige Ökonomen, die noch immer bereit waren, die Grenzen ihres Faches auch die Grenzen ihrer Reflexion sein zu lassen, mussten einräumen, dass es einer entschiedenen staatlichen Intervention bedürfe, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Die Konzession ist verwunderlich genug. Denn die Gestaltungshoheit, die hier dem Staat konzediert wurde, ist nicht die, die der Staat immer schon hatte. Die Gestaltungshoheit, die hier konzediert wurde, hat die Kapitalverwertung selbst zum Inhalt. Bringt man die Botschaft, die von der Krise ausgeht, auf den Punkt, besagt sie: In einer systemisch differenzierten Gesellschaft wie der Marktgesellschaft muss dem Staat des politischen Systems eine Gestaltungshoheit zukommen, die ihm den Zugriff auf die vom ökonomischen System geschaffenen Verhältnisse ermöglicht. Zugegeben, im politischen System liegt der Knochen beim Hund.
Die Krise des Finanzsystems ist nur die Krise eines Teilsystems: Sie ist deshalb so dramatisch, weil sie schlagartig das gesamte System der kapitalistischen Marktgesellschaft zusammenbrechen zu lassen droht. Die führt jedoch eine Dauerkrise mit sich, die zwar weniger dramatisch ist, aber dafür an die Wurzeln des neuzeitlichen Selbstverständnisses des Menschen rührt. In dieser Gesellschaft lebt nahezu die Hälfte der Menschen in bedrängenden Verhältnissen: 16,8 Prozent gelten als arm, 13 Prozent nur deshalb nicht, weil sie staatliche Transferleistungen beziehen; auch sie leben nur wenig über der Armutsgrenze; 22 Prozent leben von dem Lohn in einer Niedriglohngruppe; ein Teil von ihnen zählt bereits zu den Armen. Gewiss, es gibt den Sozialstaat. Der hat sich jedoch nur im Widerspruch zu dem Credo des ökonomischen Liberalismus ausbilden lassen, den Reichtum so zu verteilen, wie er im ökonomischen System verteilt wird. Wirklich einverstanden war das Kapital mit dem Sozialstaat deshalb nie, in Weimar nicht und in der BRD nur, solange die Kosten aus einem ungewöhnlichen Wachstum finanziert werden konnten. Inzwischen ist er bis an die Grenze einer Armutspflege zurückgedrängt worden. Gewollt ist mit dem Sozialstaat etwas anderes: Gewollt ist, die dem Staat in der Neuzeit zugewachsene politische Organisationskompetenz zu nutzen, um gesellschaftliche Bedingungen einer Lebensführung zu sichern, die es jedem ermöglichen, ein Leben zu führen, das den Sinnvorgaben der Gesellschaft gerecht wird.
Gerechtigkeit bedeutet, die gesellschaftlichen Bedingungen dafür zu schaffen, dass jeder ein Leben zu führen vermag, das den Sinnvorgaben in der Gesellschaft gerecht wird. Denn wenn man nur gehörig darüber nachdenkt, was Gerechtigkeit meint, so stößt man darauf, dass sie an die Sinnhaftigkeit der menschlichen Lebensführung gebunden ist. Sinn ist dasjenige Moment der menschlichen Lebensform, durch das der Mensch die Geistigkeit seiner Lebensform auslebt. Eine an der gesellschaftlichen Sinnbestimmung der Lebensführung ausgerichtete Gerechtigkeit stellt deshalb ein Postulat dar, das an der humanen Lebensform abgelesen wurde. Es lässt sich nicht abweisen, ohne mit der Humanität in Widerspruch zu geraten. Exakt um diesen Widerspruch geht es im Konflikt zwischen Staat und Markt. In der Marktgesellschaft ist es Aufgabe des Staates, zu leisten, was die Ökonomie nicht zu leisten vermag: für alle die gesellschaftlichen Bedingungen zu gewährleisten, die ihnen ein sinnvolles Leben möglich machen. Der Staat folgt damit nur einem Postulat, das am Grunde der Demokratie liegt: Selbstbestimmung. Denn Selbstbestimmung verlangt, in der Gesellschaft die Bedingungen zu finden, die es erlauben, den Sinnvorgaben der Gesellschaft zu folgen. Sie verlangt die Umsetzung der Gerechtigkeit. Der Staat ist gleicherweise der Demokratie wie der Gerechtigkeit verpflichtet und mit beiden der Humanität – drei Begriffe für dieselbe Sache. Der Markt ist nur einem verpflichtet: der Kapitalakkumulation. Die stellt ein effizientes Verfahren der Güterproduktion dar. Eine tiefer gehende Legitimation, den Reichtum auch zu verteilen, wie er auf dem Markt anfällt, fehlt ihm.
Der Konflikt zwischen dem ökonomischen und politischen System, zwischen Markt und Staat, liegt am Grunde der Marktgesellschaft, wie er am Grunde der Demokratie liegt. In dem Konflikt ist das ökonomische System in Führung gegangen. Für eine kurze historische Phase konnte es scheinen, als gelinge es dem Proletariat, dem Bürgertum die Gestaltungshoheit in der Gesellschaft zu entreißen. Der Sozialstaat, wie er zunächst in der Weimarer Republik, dann unter dem Grundgesetz als Verfassungsprinzip eingerichtet wurde, sollte leisten, was das ökonomische System nicht zu leisten vermochte: allen zu Bedingungen einer sinnvollen Lebensführung die Inklusion in die Gesellschaft zu ermöglichen. Gelungen ist es ihm nicht. Mit der Globalisierung sind wir in eine Epoche der Marktgesellschaft eingetreten, in der sich der Konflikt zwischen Markt und Staat schärfer als je zuvor ausgebildet hat. In den westlichen Gesellschaften hat sich ziemlich allgemein die neoliberale Position durchgesetzt, „den Markt machen lassen zu müssen“. Unter dieser Strategie treibt die Gesellschaft in oben und unten auseinander.
Die Verhältnisse sind bekannt. Nicht wenige Unternehmen sehen sich der Konkurrenz von Niedriglohnländern ausgesetzt. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist dadurch nachhaltig verändert worden. Die Kapitalgewinne steigen, die Löhne geraten unter Druck. In den zehn Jahren von 1995 bis 2004 sind die Reallöhne in der BRD um 0,7 Prozent geschrumpft. Und selbst in der Boomphase 2004 bis 2008 sind die Reallöhne gesunken. Nicht weniger bedeutsam für die sich verändernden Strukturen der Industriegesellschaft ist, dass die nationalen Gesellschaften durch die Mobilität von Kapital und Produktion um Kapital und Investitionen konkurrieren. Das drückt auf Steuern und Abgaben. So unzweifelhaft diese und andere Veränderungen in den Vorgaben der Arbeitsverfassung der Gesellschaften sind, der Schlüssel zum Verständnis der innergesellschaftlichen Entwicklung liegt nicht in den Sachzwängen, die von der Globalisierung ausgehen. Er liegt in der Machtverfassung der Gesellschaft. Sie verhindert, die Gesellschaft anders zu formieren und den Reichtum anders zu verteilen. Inwiefern?
Das Problem der Marktgesellschaft ist das ökonomische System. Es ist schlechterdings nicht in der Lage, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die es allen ermöglichen, ein sinnvolles Leben zu führen. Mit dem Unvermögen des ökonomischen Systems könnte man leben, wenn sich nicht die auf das ökonomische System gegründete Machtverfassung ins politische System hätte transferieren lassen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist das demokratische Verfahren des politischen Systems der Garant dafür, dass die, die unten sind, unten bleiben und sich bei denen, die oben sind, der Reichtum der Gesellschaft konzentriert. Ändern lassen sich die Verhältnisse nur unter drei Bedingungen:
(1) In einer Marktgesellschaft lassen sich Bedingungen, die es allen ermöglichen, ein sinnvolles Leben zu führen, nur schaffen, wenn die Gestaltungshoheit in der Gesellschaft an das politische System fällt. An Masse fehlt es nicht.
(2) Erobern lässt sich eine Gestaltungshoheit des Staates im Interesse aller in der Gesellschaft nur, wenn sich ein politisches Machtpotenzial bildet, das die Interessen derer verfolgt, die nicht oder nur unzureichend in die Gesellschaft inkludiert sind. Hier liegt das eigentliche Problem, wenn man zu einer anderen Gesellschaft kommen will. Denn die Unterschicht lässt sich politisch nicht organisieren.
(3) Notwendig ist ein neues politisches Ethos. Individualethisch notwendig ist eine Parteinahme für den andern, sozialethisch eine Parteinahme für Gerechtigkeit. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die an Sinn gebundene Lebbarkeit der menschlichen Lebensform.
Aktuell wahrscheinlich ist die Umgestaltung der Gesellschaft nicht. Ausgeschlossen ist sie angesichts des schnellen Wandels der Gesellschaft aber auch nicht.
■ Nächsten Mittwoch: Ernst-Wolfgang Böckenförde über die Voraussetzungen des Staates, die er selbst nicht garantieren kann
■ Bisher erschienen: Harald Welzer: „Die Kultur der Achtsamkeit“ (5. 9.). Saskia Sassen: „Die Bändigung des Staates“ (9. 9.). Norbert Bolz: „Die Stärken der Selbstbegrenzung“ (12. 9.). Wolfgang Sofsky: „Die Entbehrlichkeit des Staates“ (16. 9.) www.taz.de/wahl09