Überangebot an musikalischer Information

Eine Zeitreise, die kein Stück retro wirkt: Raed Yassins Album „Archeophony“ für das er rare alte Klänge recherchierte

Von Andreas Hartmann

Die weibliche Form für den Imam, den Vorbeter bei islamischen Zeremonien, existiert offiziell nicht. Der Imam ist ein Mann. Der aus Beirut stammende und seit vier Jahren in Berlin lebende Musiker und bildende Künstler Raed Yassin erfindet auf seiner aktuellen Platte nun einfach die weibliche Vorbeterin. In den Stücken „Imama of dawn“ und „Imama of dusk“, die sein Album „Archeophony“ rahmen, halten Frauenstimmen das Morgen- und das Abendgebet.

Die beiden Nummern auf dem Doppelalbum dauern jeweils über zehn Minuten. Zu hören ist der Singsang von Frauen, die aus dem Koran vorlesen. Durch sehr viel Hall und Verfremdungseffekte, die Yassin zum Einsatz bringt, entsteht ein hypnotischer Sog, der rituelle Charakter des Vorlesens wird so potenziert.

Yassin geht für seine Platte wie ein Musikethnologe und Soundarchivar vor, der alte Klänge als Material für seine Arbeit benutzt. Er, der in Beirut eine Zeit lang in einem Plattenladen gearbeitet hat, sammelt alte Schallplatten. Aufnahmen mit Koranlesungen gehören mit zu seinen Spezialgebieten. Solche, auf denen Frauen als Vortragende zu hören sind, existieren kaum. Auch das macht Yassins „Imama“-Stücke so besonders: Man hört hier etwas wirklich sehr Ungewöhnliches.

Für die anderen Nummern auf seinem Album geht er ebenfalls wie ein DJ vor, um sich dann in einen Musikproduzenten zu verwandeln. Er schichtet die Aufnahmen alter Platten, auf denen arabische Musik zu hören ist und die vor allem in der Mitte des letzten Jahrhunderts unter der Ägide westlicher Musikethnologen entstanden sind, neu zusammen und verarbeitet sie weiter zu seinem psychedelisch anmutenden Soundgebräu. Da zirpt die Oud, es rumpeln diverse Percussion-Instrumente, Flötentöne schweben umher und hin und wieder knarzt ein Kontrabass. Die Klangschichtungen, die gelegentlich noch von Naturgeräuschen wie etwa einem Vogelgezwitscher durchwirkt werden, klingen mal nach einer ausgelassen Hochzeitfeier in Kairo, mal nach einem Soundtrack für hektische Großstadtszenen in Beirut. Und dieses Überangebot an musikalischen Informationen wird dann auch noch von Yassins elektronischen Fiepsgeräuschen durchdrungen, die den Trip in die Vergangenheit wie ein Science-Fiction-Abenteuer wirken lassen. Man hat das Gefühl, einer Zeitreise beizuwohnen, die aber kein Stück retro wirkt, sondern das Vergangene deutlich hörbar ins Jetzt überträgt.

Yassin ist ein Tausendsassa, der in alle möglichen Richtungen arbeitet und keine freie Zeit zu kennen scheint, so umtriebig wie er ist. Als bildender Künstler stellt er seine Arbeiten in der ganzen Welt aus. Gleichzeitig blickt er zurück auf eine lange Karriere als frei improvisierender Bassist, der eine der führenden Figuren in dieser Szene für den gesamten Mittleren Osten war. Inzwischen arbeitet er als Komponist auch für andere Ensembles. Er bedient in den diversen Musikprojekten, die er unterhält, mal die Elektronik und die Synthesizer, mal singt er und den Kontrabass holt er auch immer wieder mal aus der Ecke. Aus seiner Vorliebe für Jazz, improvisierte Musik, Psychedelic-Rock genauso wie für arabische Volksmusiken wie etwa den ägyptischen Shaabi, kreiert er ganz eigene Klangwelten, die Tradition und Moderne verbinden. „Archeophony“ ist vielleicht sein Meisterwerk innerhalb seiner ganz eigenen Sounddisziplin bisher.

Raed Yassin: „Archeophony“ (Akuphone)