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Der ganz normale Notstand

Die Wohlfahrtsverbände haben Niedersachsens Sozialministerin zum Stadtspaziergang eingeladen

Von Nadine Conti

Am nächsten kommt das Elend mitten in der Stadt: Der Weg zum Kontaktladen Mecki führt die niedersächsische Sozialministerin Daniela Behrens (SPD) und ihren Tross aus Offiziellen und Presseleuten dicht entlang an den Menschen, die hier auf dem klebrigen, dreckigen Boden lagern, schlafen oder rauchen, trinken und schimpfen.

Die wachsende Obdachlosenszene hinter dem Hauptbahnhof ist ein Problem, das in der Stadt schon länger rauf- und runterdiskutiert wird. „Wir sehen, dass die Szene wächst und sich verändert, das ist unbestreitbar“, sagt Pascal Allewelt, der hier als Sozialarbeiter seit mehr als zehn Jahren arbeitet. „Und wir sehen, dass sich die Suchtproblematiken verschärfen.“ Heroin- und Alkoholabhängige hätten früher zwei klar voneinander abgegrenzte Szenen gebildet, jetzt werden Crack und Alkohol munter durcheinander konsumiert.

In den Kontaktladen, der als Anlaufstelle, Schutz- und Ruheraum konzipiert ist und auch grundlegende medizinische Versorgung bietet, kommen zunehmend Osteuropäer oder Geflüchtete, die aus verschiedenen Gründen durch die sozialen Netze fallen. Auch die Anzahl derer, die schwere psychische Probleme haben, nimmt zu. „Das ist ein Riesenproblem, weil es fast unmöglich ist, für sie die richtige Behandlung zu kriegen“, sagt Allewelt.

Die Sozialministerin nickt. „Wir wissen, dass wir in Niedersachsen viel zu wenig Plätze haben. Seit Jahrzehnten eigentlich. Die Pandemie hat das noch einmal verschlimmert.“ Man arbeite daran, aber das sei ein zäher Prozess. Viel mehr als zuhören und nicken kann die Ministerin nicht bei diesem „sozialen Stadtspaziergang“, zu dem die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege eingeladen hat.

Behrens’Ressort gehört nicht zu denen, in denen gerade großzügig Förderbescheide ausgestellt und Extragelder verteilt werden. Trotzdem sei ihr wichtig, den Bereich überhaupt wieder in den Fokus zu nehmen, sagt eine Ministerin, die das Amt erst vor viereinhalb Monaten übernommen hat, weil ihre Vorgängerin Carola Reimann aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten musste. Bisher dominierte die Pandemiebekämpfung alles.

Corona ist auch für die hier vertretenden Verbände wichtig: Einerseits, weil die sozialen Einrichtungen extrem gefordert waren – arme und kranke Menschen traf die Pandemie heftiger als alle anderen. Die bestehende Kluft vertieft sich. Zum anderen aber auch, weil deutlich wurde, wie wichtig und unverzichtbar diese Arbeit ist. „Ohne Sie wäre das nicht zu bewältigen gewesen“, betont die Ministerin an mehr als einer Stelle. Für die Einrichtungen erwächst daraus auch ein neues Selbstbewusstsein, mit dem sie hier ihre Forderungen vortragen. Das ist bei allen spürbar, obwohl sich vollkommen unterschiedliche Bereiche beteiligen: Von der Caritas-Kita, die sich mit der Flüchtlingsunterkunft ein Gebäude teilt, über den AWO-Pflegedienst und den jüdischen Wohlfahrtsverband, bis hin zum Deutschen Roten Kreuz und dem Paritätischen.

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