berliner szenen: Wo andere Leute Urlaub machen
Auf der Havelchaussee entdecke ich unter einer Brücke einen Mann in Bade- oder Boxershorts, der gerade angelt. Ich sehe ihn nur von hinten, doch seinem Oberkörper nach zu urteilen ist er noch jung. Links neben ihm befindet sich ein Matratzenlager mit Schlafsack, rechts eine Feuerstelle. Als ich vorbeilaufe, beißt gerade ein Fisch an. Er rollt die Angel auf und zündet sich eine Zigarette an. Ob er ein Abenteuerreisender ist, der sich einen Schlafplatz gesucht hat, an dem er sowohl vor Wind und Regen als auch vor Überfällen geschützt ist? Oder ob er durch einen Streit, eine Kündigung oder Krankheit obdachlos wurde? In jedem Fall, denke ich, hat er die Stelle gut gewählt. Hier kommen fast nur Autos und Fahrradfahrer vorbei. Ich erinnere mich an meine Reisen als Jugendliche, bei denen ich den ganzen Sommer über per Interrail oder auch per Anhalter unterwegs war und aus Geldmangel immer unter freiem Himmel geschlafen habe. Mit einem Mal verspüre ich neben Nostalgie noch ein Gefühl, das mir sonst fremd ist: Neid. Dass ein Mann es eher wagen kann, draußen zu schlafen.
Nach der Rückkehr von einem zehntägigen Zelturlaub am Meer fühle ich mich im Großstadtdschungel, vor allem aber in meiner Wohnung deplatziert. Mich in geschlossenen Räumen aufzuhalten und beim Aufstehen nicht den Himmel zu sehen, fühlt sich seltsam an. In Gedanken versunken laufe ich weiter. Vor dem Schiffsrestaurant „Alte Liebe“ steigen zwei Männer aus einem Auto. Der eine ruft: „Sonnenuntergang an der Havel!“ Der andere entgegnet: „Gucken wir gleich. Muss man ja mitnehmen, wenn man schon mal in Berlin ist.“ Ich folge ihrem Blick und denke beim Betrachten des sich langsam färbenden Abendhimmels: Wenigstens lebe ich an einem Ort, an dem andere Urlaub machen.
Eva-Lena Lörzer
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