Ausgehen und rumstehen von Marielle Kreienborg
: Spaziergang auf Deutschlands teuerster Autobahn

Wer in den letzten eineinhalb Jahren, wie die Autorin dieser Zeilen, aus der Not eine Tugend und Spaziergänge zu seinem Hobby gemacht hat, dem sei an dieser Stelle eine etwas andere Art der Abendbegehung an die Beine gelegt.

Startend am anderen Ende der Sonnenallee, wo sich, seit die Griessmühle geschlossen hat, nur selten noch ein Hipster hin verirrt, erreichen eifrige Spa­zier­gän­ge­r*in­nen nach wenigen Metern das neueste Exemplar ideenarmer Architektur: „An der innerstädtischen Peripherie“, heißt es auf der Website der Tragwerksplaner, entstehe Berlins höchstes nichttechnisches Gebäude, der Estrel-Tower. Auf hundertfünfundsiebzig Metern mit siebenhundertfünfzig Zimmern wird Berlin zu einem zweiten Frankfurt: „Hotel, Sky Bar, Coworking, Recording Studio, Incubator. Bakery. Public Park.“

Herrlich. Da freuen sich die An­woh­ne­r*in­nen der naheliegenden etwas anderen Türme; denen der Weißen Siedlung, einer Sozialbausiedlung in Neukölln, in den Medien gern als „sozialer Brennpunkt“ gebrandmarkt. Vielleicht können die Mie­te­r*in­nen beider Türme einander künftig zuwinken, aus dem siebzehnten Stock, denn auf andere Weise werden sie wohl doch eher selten in Interaktion miteinander treten.

Aber verlieren wir uns nicht in Beiwerk, flanieren wir weiter, auf unserem etwas anderen Abendausflug: Gleich neben dem angehenden Tower, noch vor den zwei goldgelben Bögen, könnte sich uns ein Schlupfloch auftun, dem wir folgen wollen, ein Gefälle runter, hinein in eine Betonplanierung. Fahrt zur Hölle, grüßt ein erstes Graffiti, darauf auch ein brennendes Polizeiauto. Was entsteht, fragt ein zweites. In Anbetracht dieser betonierten Brutalität keine verkehrte Frage. Kaum zu glauben, wo wir uns befinden, spazierengehend auf der Betonwüste, die wir für gewöhnlich nur von oben erblicken, wenn uns ein Schild des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur weismachen möchte: Man sei hier für uns im Einsatz.

„Wir bauen für Sie“, steht da. Jemand hat das „Sie“ durchgestrichen und durch „Geld“ ersetzt. Wer an dieser Stelle noch immer nicht durchschaut hat, wo wir uns hier befinden, dem sei geholfen: Mit beiden Beinen fest verankert stehen wir auf dem sechzehnten Abschnitt der A100 – Deutschlands teuerster Autobahn, Berliner Kiez-und Meinungsspalterin.

Sind Sie dafür oder dagegen? För­de­re­r*in­nen fahrradfreundlicher Fahrwege oder Ver­fech­te­r*in­nen einer Fahrradsteuer? Finden Sie es richtig oder falsch, dass dreihundert Kleingärten, über zwölf Hektar Stadtnatur, platt gewalzt worden sind, damit Menschen künftig schneller schlecht gelaunt von A nach B fahren, statt Lebenszeit im innerstädtischen Stau zu verwirtschaften?

Autobahnbau, sagen Be­für­wor­ter*innen, schaffe Arbeitsplätze und verkehrstechnische Entlastung – so wie Zitronenfalter Zitronen falteten –, und demzufolge sei es nur vertretbar, an einer Verkehrspolitik festzuhalten, die wirkt wie ein Relikt aus der Vergangenheit, sie als alternativlos zu bezeichnen und den Klimawandel auszublenden. Ar­chitektur und Verkehrspolitik müssten rückständig, reizlos und reversibel bleiben. Andernfalls drohe das Ende der Dekadenz. Und darauf hätte doch wohl keiner Bock. Dann lieber eine Milliarde verschütten, dem Desaster beiwohnen und süffisant lachen.

Aber halten wir uns nicht auf mit Unabänderlichkeiten, gehen wir weiter, durch eine sterilisierte Steppe aus Rohren, Sand und Beton, winken wir Vorbeiziehenden, die verwirrt auf uns runter schauen, während wir dem letzten Grün, das auf dem Autobahnschutt verzweifelt gegen das Vergehen kämpft, beim Wachsen zusehen.