Überlastung der Berliner Bürgerämter: „Es ist beschämend“

Die Krise in den Bürgerämtern ist auch ein hausgemachtes Problem, sagt Christiane Heiß, Grüne Stadträtin von Tempelhof-Schöneberg.

Christiane Heiß, Stadträtin von Tempelhof-Schöneberg

Christiane Heiß (Grüne) ist in Tempelhof-Schönberg Stadträtin für Umwelt und Bürgerdienste Foto: privat

taz: Frau Heiß, bei den Bürgerämtern gibt es berlinweit einen Rückstau von 250.000 Anträgen, die Wartezeit auf Termine beträgt zum Teil Monate. Ist das in Tempelhof-Schöneberg auch so lange?

Christiane Heiß: Auch wir schaffen das 14 Tage-Ziel im Moment nicht, das will ich gar nicht beschönigen. Grundsätzlich ist es aber so, dass das Bürgeramt Tempelhof-Schöneberg an der Spitze ist, was die Antragsbearbeitung betrifft. Wir haben wie alle Bezirke ein gestaffeltes Terminsystem, wie ich höre, bekommen wir alle dringenden Fälle aber zügig erledigt.

(61, Grüne) ist in Tempelhof Schöneberg seit 2016 Stadträtin für Bürgerdienste.

Warum ist die Situation in den Bürgerämtern in diesem Jahr wieder so eskaliert?

Die Bürgerämter sind seit 2015 in einem Prozess der Reform- und Weiterentwicklung. Wir haben zwei strukturelle Nachfragespitzen, die wir in den letzten 5 Jahren nicht gelöst bekommen haben, die sich immer wiederholen: dass jeden Sommer zur Ferienzeit der Andrang steigt. Das ist so, wie der Einkaufsboom für den Handel in der Weihnachtszeit, mit dem Unterschied, dass es den Bürgerämtern nicht gelungen ist, sich darauf einzustellen. Der zweite Punkt ist, dass die Stadt und die Aufgaben weiter wachsen und damit auch die Terminnachfrage bei den Bürgerämtern.

Nach jüngstem Stand ist die Einwohnerzahl in Berlin 2020 erstmals seit langer Zeit wieder gesunken.

Davon spüren wir auf den Bürgerämtern nichts. Es ist im Moment aber auch schwer zu bewerten, ob die Arbeitsrückstände nur auf die Pandemie und auf die aktuelle Urlaubswelle zurückzuführen sind. Letztes Jahr sind die Menschen ja überhaupt nicht verreist. Oder ob es vielleicht auch zusätzliche Aufgaben sind. Nach unserem Monitoringsystem müssen wir auf alle Fälle weiter Personal aufbauen. Aber das ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass jeder Bezirk seinen Anteil eigeninitiativ erfüllt.

Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) hat in einem Interview behauptet, den Bezirken seien seit Beginn der Wahlperiode 100 neue Stellen bewilligt worden, aber sie würden ihr Personalbudget seit Jahren nicht vollständig ausschöpfen.

Das stimmt leider. Da sehe ich auch ein wesentliches Problem. Vier unserer zwölf Bezirke bieten mehr Termine an, als ihre Quote am Anteil der Gesamteinwohnerzahl erfordert. Acht Bezirke tun das aber nicht. Wir vier Bezirke können nicht alleine die Mängel der acht anderen kompensieren.

Wer sind die vier Bezirke?

Das ist Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Reinickendorf und Tempelhof-Schöneberg.

250.000 Terminanfragen stauen sich bei den Bürgerämtern. Die Situation beschäftigt am heutigen Dienstag auch den Senat. Sabine Smentek, Staatssekretärin für Inneres (SPD), wird dem Vernehmen nach Bericht erstatten über den Krisengipfel mit den Bezirken, der am 23. Juni stattfand. Der nächste Krisengipfel findet am 7. Juli statt.

Breitere Öffnungszeiten sind unter anderem geplant. Die Finanzverwaltung hat als Soforthilfe 2,5 Millionen Euro zugesagt. Oliver Igel, SPD-Bürgermeister von Treptow-Köpenick, hat in einem 10-Punkte-Papier vorgeschlagen, das Geld zur Ausbezahlung von Überstunden einzusetzen (taz berichtete). (plu)

Wer ist das Schlusslicht?

Neukölln könnte sicherlich zulegen, auch Charlottenburg-Wilmersdorf könnte deutlich mehr entwickeln, was 2021 angeht.

Neukölln hat laut Kollatz nur rund 70 Prozent der Stellen in seinem Bürgeramt besetzt. Die Personalmindestausstattung, die aus dem bezirklichen Haushalt finanziert wird, orientiert sich an der Einwohnerzahl der Bezirke.

Es gibt einige Bezirke, die zu Lasten von anderen ihre Personalquote nicht erfüllen. Da wir eine Allzuständigkeit in Berlin haben, fällt das vor allem in der Zeit vor den Sommerferien auf, wo die Nachfrage besonders hoch ist.

Allzuständigkeit heißt, die Berliner können zu jedem Bürgeramt gehen. Warum wird es nicht sanktioniert, wenn Bezirke die Bürgerämter nicht voll besetzen?

Eigentlich sollte eine Zielvereinbarung mit Sanktionsmöglichkeiten verabschiedet werden, aber sie ist aufgeweicht worden. Wir stellen diese Bezirke durchaus zur Rede. Aber solange es sich lohnt, die Situation in den Bürgerämtern zu eskalieren, in der Hoffnung, der Finanzsenator schiebt kurzfristig Geld rüber …

… was auch diesmal wieder geschieht …

… so lange wird sich nichts ändern. Da können wir noch so viele Zielvereinbarungen und Monitoringsysteme aufbauen. Dass diese Stadt es nicht schafft, das besser vorausschauend zu steuern, ist beschämend

Was müsste passieren?

Wir können zwei Wege gehen: Entweder wir heben für einen befristeten Zeitraum die Allzuständigkeit auf. Das heißt, dass jeder Bezirk nur seine eigenen Bürgerinnen und Bürger betreuen muss. So könnte sich kein Bezirk mehr aus der Verantwortung stehlen. Oder – wir finden einen Mechanismus, dass die Bezirke ihre Zusagen erfüllen und eigenverantwortlich das Personal einstellen, das sie brauchen.

Das klingt nach einem richtigen Wahlkampfthema.

Meine Erfahrung ist, dass Verwaltung als Wahlkampfthema nicht so gut funktioniert. Aber ja, wenn wir etwas von der Verwaltung wollen, dann müssen wir sie auch in die Lage versetzen, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Aktuell hat der Finanzsenator 2,5 Millionen Euro Soforthilfe für die Bürgerämter zugesagt. Oliver Igel, Bürgermeister von Treptow-Köpenick, will einen Anteil in die Ausbezahlung von Überstunden stecken, um so die Öffnungszeiten zu erweitern.

Das ist sicherlich eine Option. Unser Weg ist ein anderer, der das vorhandene Personal schont. Für mehr Termine haben wir zusätzliches Personal für die Bürgerämter gewinnen können. Zum einen handelt es sich um befristete Stellen, die wir aus dem Bezirksetat finanzieren. Zum anderen können wir Beschäftigte wieder einsetzen, die zu einer Covid-Risikogruppe gehören und nicht im Publikumsverkehr tätig werden durften. Und wir bekommen noch Personal von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, das sich um die Belange des Mietendeckels kümmern sollte und nun frei geworden ist.

Was halten Sie von den Plänen des Senats, ein zusätzliches 13. Bürgeramt aufzumachen?

Ich halte eine Task-Force für dringend notwendig, um die Rückstände der Pandemie abzuarbeiten. Das ist auch eine Diskussion, die seit fünf Jahren immer wieder hoch kocht, aber noch nicht umgesetzt wurde: Wir brauchen für nicht vorhersehbare Nachfragespitzen – sei es 2015 die sogenannte Welle der Geflüchteten, oder jetzt die Folgen durch Corona – einen Personalpuffer in Bereitschaft. Das könnten zum Beispiel Verwaltungsmenschen im Ruhestand sein, die bei Bedarf bereit sind, schnell und kompetent einzuspringen.

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