: Mehr als nur eine Ausstellung
Was Kunst auch sein kann: Das Projekt „Every Mouth Must Be Fed“ von Pane Per I Poveri erforscht und feiert Ideen von Gastlichkeit und Gemeinschaft – beim Essen
Von Beate Scheder
Die Idee ist so einfach wie genial: Aus Baumwollstoff und schmalen Holzkisten haben die Künstler Philip Wiegard und Viron Erol Vert eine Art Poncho entworfen, an dem vorne und hinten die Kisten wie kleine Tische angebracht sind. Vorne, um selbst davon zu essen, hinten, damit andere dort ihr Essen oder Getränk abstellen können. Die „Table Dresses“ ermöglichen es, gemeinschaftlich, aber doch mit coronagerechtem Abstand voneinander zu speisen, miteinander in wechselnden Konstellationen in Kontakt zu treten. Am heutigen Samstag werden die Tischkleider zum Einsatz kommen, bei der Abschlussveranstaltung von „Every Mouth Must Be Fed“ organisiert von Pane Per I Poveri.
Über den Lauf von fünf Monaten hat es sich das von Eleonora Meoni und Stefania Palumbo kuratierte Projekt zur Aufgabe gemacht, eine ideale „Canteen“ zu entwerfen, eine Gemeinschaftsküche, in der zu Lebensmitteln und deren Produktionswegen künstlerisch geforscht wird und in der experimentelle Ideen von Gemeinschaft und Gastlichkeit vor sich hin köchelten, die durch die Erfahrungen der Pandemie sogar noch an Relevanz gewannen. „Every Mouth Must Be Fed“ selbst konnte trotz Corona ohne Unterbrechung stattfinden – mit streng begrenzter Teilnehmer*innenzahl, pünktlich zur Abschlussveranstaltung kann diese etwas gelockert werden.
Vert und Wiegand waren gemeinsam mit Valentina Karga über die ganze Zeit hinweg beteiligt, jeden Monat kamen immer zwei andere Künstler*innen als Gäste mit hinzu: Marta Orlando und Ninon Liotet pflanzten beim „Sowing“ einen vertikalen Gemüsegarten ins Fenster. Für „Harvesting“ sammelte und fermentierte AvantGardenLife mit den Teilnehmer*innen Pflanzen aus dem Plänterwald, während Luigi D’Alessio mit ihnen Sauerteigbrot backte. Marco Bruzzone und Darius Miksys erörterten ihr Thema „Transformation“ unter anderem mit einem Kartoffel-Puppenspiel zu den Möglichkeiten eines nachhaltigeren Lebensstils. Isabel Lewis und Liz Kraft kümmerten sich mittels Performance und dem Bemalen von Keramik um den „Service“. Im letzten Part sind die Künstlerin Kira Lillie und die Musikerin Franziska Lantz Gastgeberinnen der „Celebration“.
Am Samstag kommt noch einmal ein Großteil der beteiligten Künstler*innen zusammen und sogar noch ein paar mehr. Im Aquarium veranstalten sie einen Parcours durch die fünf Zyklen des Projekts, werfen alle Zutaten zu einer großen Suppe zusammen.
Kunst ohne VIPs
Pane Per I Poveri begann im Jahr 2015, während der Eröffnungstage der Venedig Biennale. Dem exzessiven Schaulaufen der Kunstwelt, mit ihren VIP-Empfängen und Gästelistenzirkus, wollte eine kleine Gruppe Künstler*innen und Kurator*innen etwas entgegensetzen, eine andere Idee von Kunst, eine, die niemanden ausschließt, Kunst als gemeinsame Erfahrung, nicht nur als etwas, was passiv rezipiert wird. Aus einer Notwendigkeit heraus sei die Idee entstanden, sagt Palumbo. Der Name spielt auf die in Venedig noch heute verbreitete Tradition an, in so beschrifteten Postkästen in der Stadt Brot und andere Lebensmittel für Bedürftige zur Verfügung zu stellen. Bedürftig sind in dem Fall alle, die von Kunst mehr erwarten als nur eine Ausstellung. 72 Stunden lang lud die Gruppe damals auf das Gelände des Teatro Marinoni zu einer offenen Folge von Happenings, Performances und Präsentationen.
„Jeder soll sich bei uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen“, sagt Palumbo. Dieser Geist schwingt auch bei „Every Mouth Must Be Fed“ mit. Genau wie jener der Spontaneität und Improvisation. Irritiert seien manche der Künstler*innen anfangs gewesen, als sie eingeladen wurden, aber nicht etwa – wie gewöhnlich – eine Arbeit für eine Ausstellung herzustellen, sondern dazu, ihren Arbeitsprozess als Resultat zu präsentieren. Das könnte möglicherweise aber sogar der „Anfang von etwas“ sein, wie Stefania Palumbo hofft. Mit der passenden Förderung könnte die Canteen im kommenden Jahr tatsächlich temporär realisiert werden.
Every Mouth Must Be Fed: Celebration, 26. Juni, 13–21 Uhr, Aquarium, Skalitzer Str. 6
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