Sozialer Abstieg als Befreiungsutopie

Virginie Despentes’ „Vernon Subutex“-Romantrilogie gerät in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne zum braven Nacherzähltheater

Sieht ein bisschen nach Führerbunker aus: Stephanie Eidt, Joachim Meyerhoff, Julia Schubert in „Vernon Subutex“ an der Berliner Schaubühne Foto: Thomas Aurin

Von Eva Behrendt

Kurz vor Mitternacht ist Vernon Subutex ganz unten angekommen. Joachim Meyerhoff kniet in speckiger Lederjacke und mit verfilztem Haar auf einem Stück Pappe. Unbequem sieht das aus, nach Betteln, das Arbeit macht. Er hat hohes Fieber und fantasiert, wie auf den letzten Seiten des ersten Bandes von Virginie Despentes Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“: „Ich bin die Nutte (…), ich bin die Krankenschwester (…), ich bin der Langzeitarbeitslose (…), ich bin der Baum (…)“, so löst sich das Ego des auf der Straße gelandeten Ex-Plattenladenbesitzers in der Pariser Regennacht langsam auf.

Meyerhoff, der in den letzten Jahren auch als Bestsellerautor seiner Lebensgeschichte von sich reden machte, spricht diesen letzten Monolog konzentriert, fast monoton in die Stille. Eine Übung in Demut. Auch für das Publikum, das nun nach langer Lockdown-Pause doch noch Thomas Ostermeiers ursprünglich für November 2020 geplante Premiere zu sehen bekommt. Der Schaubühnen-Chef hat in den letzten Jahren eine Schwäche für zeitgenössische französische Literatur und Gesellschaftskritik entwickelt; nach Inszenierungen zu Didier Eribon und Edouard Louis steht nun mit Virginie Despentes eine starke weibliche Stimme auf dem Spielplan. Ihr 2017 auf Deutsch erschienener erster „Subutex“-Band drängt sich geradezu für die Bühne auf, besteht er doch weitgehend aus Monologen verschiedenster Pariser*innen, bei denen der obdachlos gewordene Protagonist vorläufig unterkommt.

Eine oxidierte Metallwand, vor der die Vintage-Sofas wechseln, eine schwarze Bar und einen Konzertbühne hat Nina Wetzel auf der Drehbühne zu einem flexiblen Bühnenbild arrangiert. Über verstreute Bildschirme flackern Bilder von Pariser Obdachlosen und Gelbwesten, darüber leuchtet eine Neonpistole: „Revolver“, so hieß Vernons im Zuge der Digitalisierung überflüssig gewordener Schallplattenladen. Unten richten sich zwischen Instrumenten und Verstärkerpedalen die Musiker Thomas Witte, Taylor Savvy und Henri Maximilian Jakobs ein. Und obwohl die Figuren die provisorisch wirkende Kulisse geschickt bewohnen und durchschreiten, können sie das Nacheinander der Solo-Monologe nur selten durchbrechen.

Despentes porträtiert ihr eigenes Milieu, die linksliberale, hedonistische Pariser Boheme samt angrenzender Halbwelt der heute um die Fünfzigjährigen in allen möglichen, immer ambivalenten Facetten. Ihre Vertreter sind im Musik- oder Filmbusiness reich und zynisch geworden oder auf der Strecke geblieben. Einstige Rebellinnen haben sich in bürgerlichere Berufe gerettet oder zur Ruhe gesetzt, wie der Pornostar Pamela Kant. Wenn sie Kinder haben, grenzen sich diese von ihren Eltern ab und sind politisch radikalisiert. Thomas Ostermeier, der den Roman zusammen mit Bettina Ehrlich und Florian Borchmeyer fürs Theater bearbeitet hat, versucht keinen Berlin-Transfer und keine zuspitzende Lesart; er bleibt einfach nah am Text.

Die Schau sind die Schauspieler*innen, die sich mal im Stil einer Bekenntnisrede vorne ans Standmikro stellen, mal hinter der vierten Wand aufs Sofa sinken, gelegentlich unterbrochen vom souverän gecoverten Indie(punk)rock der Live-Band. Julia Schubert beschreibt als therapiegstählte Ex-Bassistin Emily mit unverhohlener Schadenfreude alternde Männerkörper, Stephanie Eidts Edel-Junkie Sylvie räkelt sich selbstgefällig, während sie über ihre Freundinnen lästert. Holger Bülow spielt den Drehbuchautor Xavier Fardin als überangepassten Streber, der seine Wut mit Amokfantasien knebelt. Laurent Dopalat, mächtiger Filmproduzent und Schwerenöter, kommt bei Axel Wandtke trotz Berufszynismus fast sympathisch rüber. Erst nach der Pause, bei Ruth Rosenfelds geschmeidigem Pamela-Kant-Auftritt, nimmt die Inszenierung etwas schrägere Fahrt auf, wenn die Sängerin über eine Pornofibel für Kinder schwadroniert.

Bastian Reiber treibt seinen Armutszynismus in Gestalt des skrupellosen Clubkapitalisten Kiko in eine penetrante Stand-up-Comedy-Nummer, und die beiden Trans-Darsteller*innen Henri Maximilian Jakobs (als Daniel) und Mano Thiravong (als Marcia) ziehen eine persönliche Note ein.Doch mit Helvin Tekin als gegen ihre Porno-Mutter aufbegehrende Trotz-Islamistin Aicha und Thomas Badings Altrocker Patrice, der einfühlsam über seine Neigung zu häuslicher Gewalt fabuliert, kehrt die inzwischen fast vierstündige Monologstrecke auch wieder zum psychologischen Realismus zurück. Bleibt Joachim Meyerhoff, die vielleicht größte Irritation dieses dann doch sehr braven Nacherzähltheaters: Sein Vernon Subutex taugt überhaupt nicht als die unauffällig attraktive Projektionsfläche, als die Despentes ihn beschreibt. Er ist von Anfang an nicht nur körperlich extrem präsent und in seiner abgewetzten Schmuddeligkeit fast schon auserzählt, er ist auch eine sonore Plaudertasche, die die im Roman meist in der dritten Person erzählte Perspektive in die Ich-Form holt. Und dieses Ich klingt in seiner belustigten Selbstironie sehr nach Meyerhoff, wenn auch in gechillter Version. Mit etwas gutem Willen könnte man ihn als Vorwegnahme von Subutex’ späterer Entwicklung zum DJ-Schamanen nehmen. Denn in Band zwei entpuppt sich Vernons sozialer Abstieg als Befreiungsutopie: Wer nichts mehr zu verlieren hat, lebt erst wirklich ungeniert. Was in Band drei durch die Anschläge auf die Pariser Konzerthalle Bataclan wieder kassiert wird. Doch so weit kommt es an der Berliner Schaubühne nicht. Hier entlässt einen der kniende Subutex nur mit der Frage in die Nacht, ob er nun ein Bild des Trosts oder der Verzweiflung ist.