: Wer arm ist, bleibt draußen
Während der Coronapandemie läuft vieles digital. Darunter leidet die Beteiligung armer Menschen noch mehr als ohnehin schon
Von Lotta Drügemöller
Bremer*innen können wieder ins Schwimmbad gehen, wenn Sie ihr Ticket vorher online gekauft haben. Doch dann das: „Bitte wählen Sie Ihr bevorzugtes Zahlungsmittel“, heißt es auf der Seite der Bremer Bäder, nachdem man sich über zwölf Einzelschritte endlich durchgeklickt hat. Für viele, besonders für arme Menschen ist hier Schluss: alle sechs Zahlungsmittel sind Kreditkarten.
Das Beispiel illustriert, was auch ein Zusammenschluss von Erwerbslosen und anderen Armutsbetroffenen aktuell in einer Arbeitsgruppe der Diakonie festgestellt hat: „Menschen mit Armutserfahrung erleben, dass sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden“, heißt es in ihrem Forderungspapier. Nicht nur die Zahl der Armen steige in der Pandemie; im Lockdown seien sie auch von vielen Alternativformaten ausgeschlossen, etwa deshalb, weil die digitalen Zugänge fehlen.
Die Bremer Diakonie unterstützt die Forderungen. „Die gesellschaftlichen Austauschprozesse sind digitalisiert, aber die Ärmsten sind digital unsichtbar“, so Landesdiakoniepastor Manfred Meyer. „Es ist wichtig, dass in Armut Lebende ihre Interessen vertreten können.“ Die Partizipation fehlt nicht nur beim Online-Kauf; auch Veranstaltungen, die pandemiebedingt nur digital stattfinden, stehen Menschen ohne entsprechende digitale Ausrüstung nicht zur Verfügung. „Besonders problematisch ist das, wenn es um notwendige Beratungen geht“, sagt Diakonie-Sprecherin Regina Bukowski.
Leo Degenkolbe bestätigt die Probleme aus eigener Erfahrung. „Alles muss man online machen. Aber ich habe kein Internet zu Hause“, erzählt Degenkolbe, die gerade die Zeitung der Straße im Viertel verkauft. Auch das Amt sei schwerer zu erreichen. „Wenn das Bremen-Ticket abläuft, hast du die Arschkarte.“ Zwar hatte die Stadt zwischendurch abgelaufene Bremen-Tickets als Nachweis für Vergünstigungen akzeptiert. „Das habe ich erst später mitbekommen. Man kriegt nicht mehr so viel mit wie früher.“
Neben der Beratung fehlt auch die Teilhabe. „Es ist oft ein Problem, dass arme Menschen nicht gefragt werden, wenn es um ihre Belange geht“, sagt Bukowski. „Wenn Diskussionen online stattfinden, wird ihre Stimme dort noch weniger gehört.“ Laut einer wissenschaftlichen Studie werden die Wünsche und Forderungen von Haushalten mit niedrigerem Einkommen seltener politisch umgesetzt als die von Haushalten mit höherem Einkommen. „Das ist erst einmal Corona-unabhängig“, sagt der Bremer Armutsforscher René Böhme. Armut sei sowohl bei Partei- als auch bei Gewerkschaftsmitgliedern stark unterrepräsentiert.
Leo Degenkolbe
Wo Beteiligung armer Menschen bisher noch am besten funktioniere, das sei die Stadtteilebene. Im Bremer Programm „Wohnen in Nachbarschaften“ (WiN) etwa können Bewohner*innen im Konsensverfahren mitbestimmen, für welche Projekte im Quartier Geld ausgegeben wird. Doch diese Konzepte leben von der räumlichen Nähe und auch der direkten Ansprache. Der Armutsforscher ist zwar vorsichtig mit einem Urteil. „Aber es kann gut sein, dass bestimmte Menschen nicht mehr aktiviert werden, wenn die Treffen nicht vor Ort statt finden.“
Tatsächlich hat Sandra Ahlers vom Quartiersmanagement Kattenturm sogar festgestellt, dass die Zahl der Teilnehmer*innen an WiN-Treffen zugenommen hat, seit die Veranstaltungen digital übertragen werden. „Das sind aber nicht unbedingt die Armen. Es geht dabei vor allem um junge Mütter, die so kein Problem mit der Kinderbetreuung bekommen.“ Um zu sehen, „wo im Stadtteil der Schuh drückt, brauchen wir auch die Präsenzsitzungen.“
Dass im Corona-Bundestagswahljahr auch die Wahlbeteiligung zurückgeht, glaubt Böhme zwar nicht. „Aber die Frage ist, wer wählt.“ Jede Bürgerschaftswahl in Bremen seit den 80ern sei etwas ungleicher geworden als die vorangegangene. Die Frage, so Böhme, sei die: „Wie findet man Themen, die für arme Menschen so attraktiv und wichtig sind, dass sie alle Enttäuschungen der letzten Jahre dafür über den Haufen werfen und wählen gehen?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen