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Ein Kunstblümchen im Keller

Im Verein ist Kunst am schönsten (1): Zu Recht zählen die Kunstvereine seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe. Ihre Erkundungs- und Vermittlungsarbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte. Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben in Porträts. Diesmal: Göttingen

Von Bettina Maria Brosowsky

Deutschlands über 300 Kunstvereine zählen zum immateriellem Unesco-Kulturerbe der Republik. Das hatte die Kultusministerkonferenz am 19. März beschlossen. Dieses Kulturinstitutionen-Netzwerk mit 120.000 Mitgliedern ist ein Charakteristikum des deutschsprachigen Raumes, es gibt sie auch in Österreich und der Schweiz sowie in Norditalien. Die ersten und heute traditionsreichsten aber wurden zwischen 1800 und 1840 von wohlhabenden Bürgern sowie Künstlern gegründet, wie in Hamburg 1817 und in Bremen fünf Jahre später. Mitglieder waren damals wohl ausschließlich Männer. In vielen Ländern war, wie in Braunschweig, Frauen damals jede Vereinszugehörigkeit gesetzlich untersagt.

Die Förderung der zeitgenössischen Kunstproduktion, auch die Vermittlung von Verkäufen war die Idee der Initiatoren. Zumal nach 1990 kam es zu einer Reihe von Neugründungen auf dem Gebiet der früheren DDR – der in Schwerin ist dafür ein gutes Beispiel. Aber auch aktuell formieren sich beständig weitere Kunstvereine, häufig als systemkritische Alternative gerade dort, wo die traditionellen Kunstvereine sich als Institutionen etabliert und vor kanonisch ungesicherten Positionen der Gegenwartskunst zurückschrecken. Als übergeordneter Fachverband der im deutschsprachigen Raum ansässigen nichtkommerziellen Kunstvereine versteht sich seit 1980 die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV).

Die Förderung verteilen die Länderministerien, beraten jeweils durch Fachkommissionen: In Niedersachsen zum Beispiel überweist das Kulturministerium an derzeit 25 Kunstvereine institutionelle Förderung fürs Jahresprogramm, weil sie eine herausragende Rolle bei der Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Kunst spielen, wie es dazu aus Hannover heißt. Gezeigt werden internationale Positionen auf Augenhöhe mit den Museen in staatlicher Trägerschaft. Zudem sorgen sie für Vernetzung der lokalen Szenen und sie entwickeln ein breites Angebot im Bereich kultureller Bildung. Qualitätskriterien sind eine überregionale Bedeutung des Programms, die qualifizierte Vermittlung und die Förderung des künstlerischen Nachwuchses.

„Mit ihren innovativen Ausstellungs- und Vermittlungsprogrammen fördern Kunstvereine das Verständnis für aktuelle Themen und Ausdrucksformen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Innovationsfähigkeit Niedersachsens“, so Kulturminister Björn Thümler (CDU). „Besonders in der Pandemie zeigen die Kunstvereine in Niedersachsen, dass sie alternative digitale und analoge Vermittlungsstrategien mit großem Erfolg entwickeln und umsetzen.“

Die Serie „Im Verein ist Kunst am schönsten“ stellt in loser Folge norddeutsche Kunstvereine vor: Ihre Geschichten, ihre Räume, ihre aktuelle Arbeit und wie sie der Pandemie trotzen.

Wo Goethe und Lichtenberg zechten

Als Anfang des Jahres das neue Kunsthaus in Göttingen, initiiert vom Verleger aufwändiger Kunst- und Fotografiebände, Gerhard Steidl, seine Eröffnung zum Frühjahr ankündigte, schickten einige größere Medien schon mal vorab jemanden hin. Ein Redakteur der Zeit speiste bei Steidl, die Textchefin des Kunstmagazins Art ließ sich über Stunden von ihm durch seine Verlags- und Druckereiräume und das zukünftige Kunstquartier führen. Tenor dieser Berichterstattungen: Endlich bekommt Göttingen einen Ort, an dem zeitgenössische Kunst gezeigt wird.

Solch Ignoranz ist natürlich bitter für eine lokale Institution, die sich seit ihrer Gründung 1968 nämlich genau damit, der Präsentation und Vermittlung aktueller Kunst, intensiv befasst. Und das ist der Kunstverein Göttingen fraglos. Sicherlich, mit rund 200 Mitgliedern zählt er nicht zu den ganz großen im Norden, und andere kleinere Kunstvereine wie in Wolfsburg oder auch Langenhagen vermögen aus ihrem Standortvorteil neben überregional wahrgenommenen Museen vielleicht gewisse Strahlkraft fürs eigene Profil zu gewinnen. Auch sind die Ausstellungsräume im ersten Obergeschoss des Künstlerhauses im Lichtenberghaus, so die offizielle Bezeichnung der Adresse, nicht übermäßig originell. Dafür atmet das Domizil, ein barocker Wohn- und Kontorbau aus Fachwerk direkt in der Innenstadt, den Geist des genialen Göttinger Satirikers und Aufklärungs-Denkers Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), der seinen Zeit­ge­nos­s*in­nen freilich als Naturwissenschaftler galt: Der Sauerstoffleugner war als Professor für Mathematik und Experimentalphysik an der örtlichen Uni tätig – und europaweit anerkannt. Hier jedenfalls hatte er ab 1775 bis zu seinem Tod gelebt, seine Apparaturen betrieben, Studenten unterrichtet.

Im Gewölbekeller des Hauses, mit eigenem, wahrscheinlich mittelalterlichem Brunnen, sollen Lichtenberg und seine Gästen gezecht haben – darunter wohl auch Goethe. So gibt es Helmut Wenzel zum Besten, seit 1983 Geschäftsführer des Kunstvereins. Dieses Raumkuriosum steht ebenfalls für Ausstellungen und Veranstaltungen zur Verfügung, als zweites Standbein kommt noch eine große Fläche im historischen Rathaus am Göttinger Marktplatz hinzu.

Der Kunstverein und seine Programmgestaltung interagieren mit ihrem Standort, eine mittelgroße Stadt von etwa 120.000 Einwohnern, die geprägt ist durch die rund 30.000 Studierenden der Georg August-Uni, allerdings an eher bedingt kunstaffinen Fakultäten wie Medizin, Natur-, Rechts- oder Geisteswissenschaften. Die Vizepräsidentin der Alma mater gehört zum Vorstand des Kunstvereins. Auch zyklische Kooperationen mit ihren Instituten und externen Forschungseinrichtungen ermöglichen interdisziplinäre Programme. Ein dreisemestriges Projekt mit 17 Studierenden des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie ging 2013 erstmals den ausgeblendeten Geschichten der Migration in Göttingen nach. Die Ausstellung „Movements of Migration“ machte sie künstlerisch visuell erfahrbar.

Eine andere Kooperation untersuchte 2014 „Dynamiken der Religion in Südostasien“, und bereits 2011 galt „India is now …“ der in die internationale Wahrnehmung drängenden Kunst des Subkontinents. Jenseits streng geografischer Rückbindung wurde sie auch durch Künst­le­r:in­nen repräsentiert, die außerhalb Indiens leben.

Auf freiberuflicher Basis kuratiert

Neben solchen Themen- und Gruppenausstellungen pflegt der Kunstverein die ganz klassische Einzelpräsentation, vornehmlich jüngerer Künst­le­r:in­nen – so wie es die ungeschriebenen Gesetze für Kunstvereine als aktive Förderung professioneller Werdegänge verlangen. Prominent, international und medienübergreifend besetzt liest sich die entsprechende Liste: 1995, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, zeigten die Brüder Carsten und Olaf Nicolai aus der ehemaligen DDR ihre gemeinsame Ausstellung „Die Neuaufteilung der Welt“.

Der Titel klingt nachgerade prophetisch, denn beide starteten in steile, internationale Karrieren. Olaf, promovierter Germanist, wurde zum konzeptionellen Spezialisten für historische und politische Fragestellungen, wie etwa in dem 2014 eingeweihten Betonmonument zum Gedenken der Verfolgten der NS-Militärjustiz am Wiener Ballhausplatz unter Beweis gestellt. Carsten, studierter Landschaftsarchitekt, macht elektronische Musik, Klangkunst und Medieninstallationen. Beide waren mehrmals auf der Biennale in Venedig vertreten. Dem norwegischen Maler und Bildhauer Olav Christopher Jenssen widmete sich 2000 eine erste Einzelschau. Seit 2007 ist er Professor an der Kunsthochschule Braunschweig. Oder 2015 Julius von Bismarck: Seine künstlerische Forschung befasst sich Naturgewalten wie Orkanen, Sturmfluten oder Waldbränden sowie deren politischer Dimension, im Jahr 2018 erhielt er den Kunstpreis der Stadt Wolfsburg.

Vielen Künst­le­r:in­nen haben die Göttinger ihre erste institutionelle Einzelausstellung ausgerichtet. 2019 nutzte der aus Göttingen gebürtige Fotokünstler Samuel Henne die Gelegenheit, um gleich die ganzen Räume des Kunstvereins in eine intensivfarbige Gesamtinstallation zu verwandeln. Wenn möglich, werden die Ausstellungen durch Künstlerbücher oder Kataloge begleitet und dokumentiert – „aus renommierten Verlagen“, scherzt Geschäftsführer Wenzel mit Blick auf den örtlichen Zampano. Dazu kommt noch die Vermittlung, etwa als Workshops mit den ausstellenden Künstler:innen, und, seit 1988, eine ehrenamtlich betriebene Artothek zum temporären Verleih zeitgenössischer Kunst.

Etwas ungewöhnlich mag die Personalkonstellation anmuten. Herrscht in den meisten Kunstvereinen die Personalunion von Geschäftsführung und künstlerischer Leitung, so ist sie in Göttingen durch zwei Personen vertreten. Seit diesem Jahr wird das Jahresprogramm – Voraussetzung für die Förderung durch das Niedersächsische Wissenschaftsministerium – vom Berliner Kunsthistoriker Vincent Schier auf freiberuflicher Basis kuratiert. Unter dem Titel „Body [Space] Time“ gehen fünf Eigenproduktionen dem Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung nach, das sich aufgrund pandemiebedingter Schließungen öffentlicher Orte, Hygiene- und Abstandsregeln in den letzten Monaten ebenso grundlegend wie wohl auch lang nachwirkend verändert hat.

https://www.kunstverein-goettingen.de

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