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Der Friseur und die Botschaft

Rückblick auf eine Zeit der Öffnung und neuer Möglichkeiten: Annette Maechtel hat eine Studie über die Aktivitäten des Berliner Vereins „Botschaft e. V.“ in den 1990er Jahren geschrieben

Von Martin Conrads

Kommt man heute am Bürohaus in der Kronenstraße 3 in Mitte vorbei, bietet sich das für diese Gegend typische Bild eines totsanierten Altbaus inmitten lauter Nachwende-Bürobauten. Kaum mehr vorstellbar, dass vor 30 Jahren das noch unsanierte Haus als Solitär dastand. In den umgebenden Straßenzügen, heute Sitz von Verbänden, Anwaltskanzleien und Business Centern, zeigte sich die Eben-noch-und-gerade-noch-nicht-Hauptstadt an dieser zentralen Stelle als durch Krieg, Abrisse und verlassene DDR-Funktionsgebäude fragmentarisch wirkende Gegend mit vielen Brachen, wenig Beleuchtung und Sand statt Bürgersteigen.

Fast noch weniger vorstellbar ist, dass das Haus von 1991 bis 1996 vor allem des Abends und nachts für Teile der damaligen Berliner Kultur- und Kunstszene ein essentieller Ort war: für durchtanzte Nächte, politische Diskussionen, Stereo-Total-Konzerte, Technoinstallationen, künstlerisch-dokumentarische Ausstellungen und soziale und technologische Netzwerk­erfahrungen. Manche mögen den „Friseur der Botschaft“ – so der Name des Ladenlokals im Haus, ein ehemaliger Friseursalon, über dessen Eingang eine leuchtende Trockenhaube hing – dabei nur als die zeittypisch skurrile Bar direkt um die Ecke vom Techno-Kleinstclub „Elektro“ und dem Caipirinha-Untergrundausschank „Favela“ wahrgenommen haben.

Der Name der Lokalität verwies aber tatsächlich nicht (nur) auf die sich in direkter Nachbarschaft befindliche diplomatische Vertretung Nordkoreas, sondern insbesondere auf den „Botschaft e. V.“. Dieser rund 15-köpfige Verein, der 1990 im „WMF-Haus“ an der Leipziger Straße gegründet worden war, betrieb nach seinem Umzug in die von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) kostengünstig für fünf Jahre zur Verfügung gestellte Immobilie in der Kronenstraße den „Friseur“ und nutzte eine der darüberliegenden Etagen für eigene, meist künstlerische oder mediale Produktionszwecke.

„Friseur“ und „Botschaft“ waren in der jüngeren progressiven Berliner Kulturgeschichtsschreibung nie vergessen – im Gegenteil: Diskussionen über Projekträume, Gruppenkonstellationen oder nicht an einer Produktidee orientierten künstlerischen Arbeiten rekurrierten zuletzt oft auch auf die Geschichte des Vereins und Ortes. Dass einzelne ehemalige Mitglieder der Gruppe heute als Kunstprofessor*innen, Film- oder Krimiautor*in, Projektentwickler oder Ge­schäfts­füh­re­r*in eines Kulturquartiers tätig sind, zudem Deutschland auf der Kunstbiennale von Venedig vertraten, tat dieser Relevanz der Gruppe keinen Abbruch. Dass bei alledem bislang jedoch keine systematische Erschließung der Aktivitäten des „Botschaft e. V.“ vorlag, hing auch daran, dass es die ehemaligen Beteiligten am 1996 aufgelösten Verein vorzogen, in Sachen kollektiver Geschichtsschreibung selbst nicht aktiv zu werden.

„Friseur“ und „Botschaft“ waren in der Berliner Kulturgeschichte nie vergessen

Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Annette Maechtel, die seit den 1990er Jahren in selbstorganisierten Berliner Zusammenhängen kuratorisch aktiv war und vor einem Jahr die Geschäftsführung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (nGbK) übernahm, hat im Rahmen ihrer nun erschienenen Dissertation eine so aufschlussreiche wie lesenswerte Analyse von „Botschaft e. V“ als Beispiel einer Praxis kultureller Produktion via Raumaneignung und – so die These des Buches – als Beispiel einer Praxis von „Raumproduktion“ via kultureller Aktivität vorgenommen. Auf dicht geschriebenen 450 Seiten (inklusive Bildteil) beschreibt Maechtel in „Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre“, wie und warum „Botschaft e. V.“, begünstigt unter anderem durch ungeklärte Restitutionsverfahren und durch eine vergleichbaren kulturellen Aktivitäten qua temporärer Raumvergabe kulant aufgeschlossene WBM ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses von Raum und Politik entwickelten. Ausstellungen (etwa über die IG Farben oder das Verhältnis von Realität und Dokumentation) seien vom Verein als Ort des Politischen konzipiert worden, als sozialer Raum– und nicht als Ort, an dem Politik bloß gezeigt wird. So sei es den Beteiligten nicht darum gegangen, „brachliegende Räume sichtbar zu machen und zu reaktivieren, sondern die zugrunde liegenden Machtinteressen zu thematisieren“.

Maechtel stellt diese seinerzeit für Berlin neue Kunstpraxis etwa dem damaligen Selbstverständnis der 1993 geschlossenen Staatlichen Kunsthalle Berlin wie auch den 1991 gegründeten „Kunst-Werken“ in der Auguststraße gegenüber. Dass und wie sich diese kulturelle Praxis nach „Botschaft e. V.“ bis heute in Berlin manifestierte, lässt Maechtel nur anklingen. Es wäre eine separate Studie, durch die sich etwa die Genese eines aktuellen kulturpolitischen Vorzeigeprojekts wie dem „Haus der Statistik“ am Alexanderplatz noch einmal anders einordnen ließe.

Annette Maechtel: „Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre“. b_books, Berlin 2020, 450 Seiten, 24 Euro. Heute 20 Uhr Buchvorstellung + Diskussion via Zoom mit Annette Maechtel, Rachel Mader, Florian Zeyfang u. a., moderiert von Stephan Geene. www.b-books.de

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