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Mittelgebirge, Mittelstand, Mittelmaß

Der Hamburger Fotograf Tilman Walther interessiert sich für gesichtslose Kleinstadt-Gebrauchslandschaften. Jetzt setzt er die geordnete Ödnis als minimalistische Rauminstallation in Szene – in einem Yogastudio

Von Falk Schreiber

Ein graues Land. Tilman Walther wandert durch die Bundesrepublik und sieht: Mittelgebirge. Mittelstand. Mittelmaß. Der Hamburger fotografiert unattraktive Gebrauchslandschaften: gesichtslose Dörfer, Einfamilienhäuser, Gewerbegebiete, Wohnblocks. Und alles in Quadrate aufgeteilt: Gerade Linien durchziehen die Arrangements, Schienen, Straßen, Kanäle. Ordnung entlang von Verkehrsadern. Aber zwischendurch immer wieder: Störungen in der Ordnung, Autounfälle, verformtes Blech. Die Verkehrsadern ordnen den Alltag, aber der Verkehr, der durch diese Adern fließt, sorgt auch für gewalttätige Ausbrüche aus dem Alltag.

Walther hat die Fotoausbeute seiner Wanderungen in einem Künstlerbuch festgehalten, „Der Mittelstand. Bilder und Tabellen“, erschienen vor einem Jahr im Hamburger Textem Verlag. Es ist die Basis für Walthers Rauminstallation „Werte & Normen“ im Hamburger Kunstraum Y8 – eigentlich ein Yogastudio, das regelmäßig die Nähe zur Bildenden Kunst sucht und teilweise hochkarätige Ausstellungen zeigt. Walther hat die Tabellenstruktur seiner Fotografien auf den dortigen Boden übertragen, mit Kreppbändern, die an den Fußsohlen kleben, wenn man auf Strümpfen durch den Raum geht. Außerdem sind die strahlend hellen Wände in mattes Licht getaucht, die Fenster abgedunkelt, weswegen eine seltsam bedrohliche Stimmung vorherrscht, als ob gleich ein Unwetter niedergehen würde.

Sonst: nichts. Keine Fotos, keine Bezüge. Zumindest auf den ersten Blick nicht. Von einem „Versuch“ ist in der Ankündigung ein wenig wolkig die Rede: dem Versuch, Teile von Walthers Beschäftigung mit westdeutschen Strukturgemeinsamkeiten „räumlich erfahrbar zu machen“.

Man blättert nach dem Gang durch den minimalistisch gestalteten Raum in „Der Mittelstand“, und auch wenn die Fotografien lange vor „Werte & Normen“ entstanden sind, kann man gar nicht anders, als diese reduzierte Konzeptfotografie nun auf das Raumkonzept anzuwenden: Ist der Minimalismus hier nicht ähnlich strukturiert wie dort? Finden sich die gerade Linien aus den dörflichen Verkehrsadern nicht auch in der Fachwerkarchitektur des Y8 – und sieht dieser Raum einfach nur schicker aus als diese trübsinnigen Kleinstädte, steht aber für die gleiche neoliberale Ideologie?

Walther, der 2016 sein Studium der Bildenden Kunst und der Kunsttheorie an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste abschloss, kann gleichzeitig als Künstler und Theoretiker verstanden werden. Auch wenn der Großteil seiner Arbeit in Fotografie und Film stattfindet, liegt ihr immer ein konzeptioneller Gedanke zu Grunde. So auch hier: „Vielleicht ist ein Yogastudio, das gebaut ist wie ein Carport, die eigentlich perfekte Bühne für eine sparsame Ausstellung zu, mit und über Deutschland“, schreibt er in einem begleitenden Aufsatz. Denn so „wie schon die Carports“ habe sich auch „das Yoga erst über den Umweg der USA“ ausgebreitet, „interpretiert als kombinierte Sport- und Meditationspraxis im Zuge der dort wabernden New-Age-Bewegung, flächendeckend in Deutschland aus, unter anderem als die zwei Seiten einer Medaille: der Repräsentation und Reproduktion von Arbeitskraft“. Wirklich freundlich geht Walther also nicht um mit dem ihn nun beherbergenden Umfeld – aber so erklärt sich der politische Titel „Werte & Normen“.

Der Besuch bei Y8 ermöglicht eine berührende Raumerfahrung, im Laufe der sechs Ausstellungswochen sind „spontane Veranstaltungen“ geplant. Walther erwähnt den symbolischen Aufbau eines Maibaums im Yogastudio, und auch das führt zurück auf seine Kritik an repressiven Werten und Normen: Der Maibaum symbolisiert Fruchtbarkeit – wieder ein Verweis auf Reproduktion. Alles ist eingespannt in kleine Quadrate, selbst für Sexualität und Liebe gibt es bestimmte Strukturen, aus denen sich nicht ausbrechen lässt. Auch hier wieder: die Straßen und Bahnlinien, die die öde Landschaft von „Der Mittelstand“ durchschneiden, die den Weg vom Häuschen am Ortsrand zur Arbeitsstelle und zurück ermöglichen, den Weg zwischen Schlafzimmer und Fließband. Auf dem von Zeit zu Zeit grausige Unfälle passieren.

Die immerhin passieren bei Y8 nicht. Man kann nämlich „Werte & Normen“ auch ohne das theoretische Rüstzeug und ohne den Rückgriff auf die Fotografien im Buch betrachten, als verrätselte, minimalistische, formal strenge und damit auch schlicht schöne Verfremdung eines architektonisch nicht uninteressanten Raumes. Wobei – ein bisschen was fehlen würde dann schon.

Tilman Walther, „Werte & Normen“: bis 13. 6., Hamburg, Y8. Besuch nach Anmeldung unter office@artyoga.de oder ☎0176-61 91 06 75.

Gespräch zwischen Tilman Walther und Nora Sdun (Textem Verlag). 30. 5., 11 Uhr (je nach Pandemielage als Stream oder vor Ort)

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