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Keuschheitsgürtel für die Neuzeit

Mit der Ausstellung „Sex und Vorurteil“ thematisiert die Lübecker Völkerkunde nicht nur manche Fehldeutung durch Kolonialreisende. Sie zeigt auch, dass es nicht-binäre Geschlechtervorstellungen zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab

Von Frank Keil

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Dass es im südwestafrikanischen Namibia nie einen Prinzen gegeben hat: egal – es geht wohl allein darum, Erotik und angebliche Exotik verknüpft zu vermarkten und dabei an rassistische Vorurteile anzudocken. Der insofern exemplarische Gegenstand findet sich derzeit in einer Lübecker Vitrine, als Teil der Ausstellung „Sex und Vorurteil“; zusammen mit vergleichbaren Produkten: einer Tube „Indische Liebescreme für SIE und IHN“, einem Badezusatz „Sensual Japanese Bath Experience“ oder einem Massageöl mit dem Logo „Oriental Ecstasy“.

Die Vitrine steht im ersten Raum dieser Ausstellung der Lübecker Völkerkundesammlung, die – mangels eigener Räumlichkeiten – seit einigen Jahren im Kunstmuseum St. Annen eine Spielstätte gefunden hat. Mit „Sex und Vorurteil“ wagt die Sammlung Dreierlei: Erstens ermuntert sie Besucher:innen, sich den eigenen Klischees und Vorurteilen im Kontext von Erotik und Sex zu stellen; zweitens versteht sie sich als fachlicher Beitrag zur aktuellen Genderdebatte; und die Sammlung möchte sich selbst als moderne, ethnologische Institution präsentieren – und zeigen, dass Bedeutung, aber auch Kraft aus der beständigen Selbstbefragung zu schöpfen sind.

Davon erzählt ein Objekt auf verblüffende Weise: ein zweiteiliger Gegenstand, eine stilisierte Menschenfigur und, darunter, ein Corpus, der nach unten spitz zuläuft wie die Scheide eines Dolchs. Im Inventarbuch von 1904 fand Sammlungsleiter Lars Frühsorge den Eintrag, es handele sich um ein Deflorationsinstrument für die Hochzeitszeremonie der Batak, einer Ethnie in Indonesien. Nur kennen die Batak keine solche rituelle Handlung.

Tatsächlich, so ergab Frühsorges Recherche, ist das Objekt ein zwar kunstvoll gestaltetes, aber funktionales Behältnis für ein medizinisches Gegenmittel bei einem Schlangenbiss. Womöglich ist dem Afrika-Reisenden, der den Gegenstand seinerzeit an die Trave mitbrachte, die biblische Geschichte von Adam und Eva, der Schlange und der Versuchung im Kopf herumgespukt. Interessant ist aber auch, dass ein Jahrhundert lang niemand die damaligen Abgaben überprüfte.

Solche Aha-Momente bietet die Ausstellung viele. Etwa wenn man in einer Art Guckkasten auf verschiedene historische Postkarten schaut, auf denen unzureichend bekleidete Afri­ka­ne­r:in­nen zu sehen sind, die sehnsuchtsvoll in die Ferne schauen, als käme von dort das Glück. Gefertigt wurden diese Postkarten explizit für den kolonial-europäischen Markt – importiert als pseudo-ethnologische Bilddokumente, um die Zensur zu umgehen, wenn man wieder reichsdeutschen Boden betrat. „In den Zeiten, wo der Anblick eines bloßen Knöchels ein Problem war, hatte man kein Problem, Afrikaner und Afrikanerinnen sich ausziehen zu lassen“, sagt Tristan Bielfeld, Mitkurator der Ausstellung. Die Bildkarten stammen aus der Sammlung der Lübecker Afrika-Reisenden Eugen und Hanna Duderstadt, die sie nach einer Reise im Jahr 1911 anlegten, auf dem Höhepunkt der deutschen Kolonialzeit.

Überhaupt verankert sich die Ausstellung immer wieder in der Stadt, führt didaktisch klug vor die eigene Haustür, um von dort in die Welt zu schreiten: Wie sich in Lübeck Sexarbeit und Prostitution in verschiedenen Epochen entwickelte, zunächst in innenstädtischen Straßenzügen, später in die Vororte ausgelagert, ist zu erfahren. Das Puppenbordell „Relax Dolls“ im Süden der Hansestadt, vor den Toren der Altstadtinsel, wird kurz vorgestellt – derzeit ist es wegen der Pandemie und der Schwierigkeit, Menschen nahezukommen, stark nachgefragt.

Auch eine Erstausgabe des Romans „Professor Unrat“ liegt bereit. Es ist eine Leihgabe aus dem Buddenbrook-Haus, mit dem sich der vor 150 Jahren geborene Lübecker Heinrich Mann mit der Beschreibung der verklemmten Sexualität eines alten weißen Mannes keine Freunde machte.

Daneben liegt ein „Keuschheitsgürtel“, der sonst im kleinen Museum des Holstentors zu betrachten ist. Wer denkt, dabei handele es sich allein um ein Instrument des Mittelalters, das Frauen zur Keuschheit zwang, erfährt nun, dass es sich oftmals um eine Art „Arbeitsschutz“ der Neuzeit handelte: Weibliche Bedienstete schnallten ihn um, um sich vor Übergriffen ihrer Arbeitgeber zu schützen.

Doch die Ausstellung hat sich nicht nur vorgenommen, uns in das verwirrende Feld von Mutmaßungen und Spekulationen zu führen, wenn es um Sex, Eros und Macht geht. Die Schau tritt auch an, das Diktum der Selbstverständlichkeit von Heterosexualität zu hinterfragen, und zeigt mittels unterschiedlicher Belege quer durch Regionen und Zeiten, dass es das Nicht-Binäre immer gab: etwa wenn eine Fotoarbeit zwei „schwörende Jungfrauen“ aus Nordalbanien zeigt, wo Frauen sich per Schwur zum Mann erklären können, um anschließend einem Familienclan vorzustehen und dessen Geschicke zu leiten.

Der immer wieder von fundamental-evangelikalen Gruppen lancierten Auffassung, Homosexualität sei per se unafrikanisch, eingeschleppt von Kolonialherren und schon deshalb abzulehnen, stellt sich eine stilisierte Karte des afrikanischen Kontinents entgegen. Sie zeigt, in welchen Regionen Begriffe für Homo- oder Bisexualität schon immer existierten – es sind viele.

Auch Amulette aus Thailand mit Darstellungen sexueller Vorlieben sind zu sehen. Sie sollen helfen, damit eine Frau einen Mann, ein Mann eine Frau, ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau findet. Und man kann diese Amulette weitgehend problemlos von hinduistischen Priestern weihen lassen. Aus Indien wiederum werden die Hijras vorgestellt, die bereits im Kamasutra des 3. Jahrhunderts als „dritte Natur“ beschrieben wurden und heute zunehmend auf die Möglichkeiten der operativen Geschlechtsangleichungen zurückgreifen können.

Es geht nach Japan, nach China, in die Geschichte, in die Gegenwart. Kultische treffen auf Alltagsobjekte, Populärkultur begegnet religiöser Kunst. Bevor man aber ein Objekt betrachtet hat, hängt da im Eingangsbereich ein Foto der Gedenktafel am Zeughaus, dem Sitz des einstigen Lübecker Völkermuseums: „Zur Erinnerung an die Menschen“, ist zu lesen, „die aufgrund ihrer homosexuellen Identität im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden.“

Ausstellung „Sex und Vorurteil“: bis 29. 8., St.-Annen-Museum, St.-Annen-Straße 15, Lübeck. Internet:

https://st-annen-museum.de

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