berliner szenen: Weiße Rosen auf dem Boden
Vor der Apotheke in der Spandauer Altstadt ist eine Schlange. Beim Warten entdecke ich einen Stolperstein, auf dem steht: „Hier wohnte und arbeitete Julius Siegmann.“ Julius Siegmann, 1873 geboren, wurde am 14. Januar 1943, dem Tag, an dem Roosevelt und Churchill zur Beratung über die weitere Kriegsführung gegen Nazideutschland zusammenkamen, nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet. Später finde ich heraus, dass ihm die Apotheke gehörte und er bereits ein Haus in Brasilien gekauft und Fluchtpläne geschmiedet hatte, als Juden 1941 die Auswanderung verboten wurde.
Seit dem 8. Mai fallen mir die Stolpersteine in der Stadt vermehrt auf. An dem Samstag hatte ich in Wilmersdorf fünf weiße Rosen auf dem Boden bemerkt. Eine neben jedem Stolperstein der Familie Simonson, die 1938 nach Palästina ausgewandert war. Ich freute mich, durch die Rosen auf ihre Stolpersteine aufmerksam geworden zu sein. Und wunderte mich gleichzeitig. Den Brauch, am 9. November Kerzen abzustellen, kannte ich. Aber Blumen zum Tag der Befreiung? Ich kam ins Grübeln. Die meisten Verfolgten konnten das Ende des NS-Terrors schließlich nicht mehr erleben.
Ein paar Stunden später entdeckte ich auch an anderen Orten der Stadt Blumen neben Stolpersteinen und stieß nach etwas Recherche auf einen Aufruf der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano. Sie fordert, den Tag zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. Nach einigem Nachdenken leuchtet mir die Forderung ein. Der 8. Mai war schließlich nicht nur für Gegner und Verfolgte des NS-Regimes ein Feiertag. Er ist auch für uns Nachgeborene einer: als der Tag, der den Weg zur Konstituierung einer wehrhaften Demokratie freimachte, die sich „Nie wieder!“ auf die Fahnen geschrieben hat.
Eva-Lena Lörzer
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