: Im Gebüsch und in der Bäckerei
Stöbern nach Kunst im Dickicht der Stadt: In Moabit haben Künstler:innen des Kollektivs Æ Skulpturen und Interventionen in alltägliche Umgebungen gebracht – und auch gepflanzt
Von Jan Bykowski
Eine lose Gruppe von Kunstschaffenden hat die Nase voll. Verschobene Termine, Absagen und allerorten die Flucht in den virtuellen Raum, seit Langem sieht der Kulturbetrieb so aus. Museen, Galerien und andere institutionalisierte Kunsträume sind nur zeitweise und unter wechselnden Einschränkungen nutzbar. Aber es geht auch anders. Die Gruppe fand sich zum Künstlerkollektiv Æ zusammen und das macht seine Ausstellung kurzerhand selbst, und zwar umsonst und draußen.
Ihre Skulpturen, Installationen und anderen künstlerischen Interventionen haben Ende Mai des letzten Jahres kreuz und quer durch Kreuzberg ihre Plätze gefunden. Das Konzept fand Zuspruch, in diesem Jahr beteiligen sich noch mehr Kunstschaffende am aktuellen Projekt der Gruppe: „The Forage“ findet gegenwärtig in Moabit statt.
Grundlegend für das Kollektiv Æ ist der Wunsch, nicht noch eine Online-Veranstaltung zu machen. „Wir wollten wieder zurück zur Materialität“, erklärt Theresa Kampmeier, eine der Organisatorinnen. Um zu den Arbeiten zu finden, ist für die Öffentlichkeit dann aber doch ein onlinefähiges Gerät erforderlich. Auf der Website aeproject.info lässt sich eine Karte öffnen, die zu den oft unscheinbaren Stationen des Projekts führt, und sie mit Informationen über Werk und Autor*in ergänzt.
Der schwer zu übersetzende Begriff „Forage“ bezeichnet das Stöbern von Tieren im Wald nach Nahrung. Im oft unterschätzten Bezirk Moabit finden Kunstsuchende mehr, als das durch Gefängnis und LAGeSo geprägte Image des Bezirks nahelegt. An belebten wie auch an weniger offensichtlichen Orten ist hier Kunst zu finden. Etwa 30 Interventionen fallen in Moabit auf eine kulturell überraschend fruchtbare Umgebung.
Das Umfeld ist zuweilen auch von Geschichte getränkt. Eine der prominentesten Insassinnen des Moabiter Gefängnisses war Rosa Luxemburg. Hier wie auch in den anderen Haftanstalten, in denen sie festgesetzt worden war, fand sie trotz der Umstände auch etwas, woran sie sich freuen konnte. Sie sammelte Pflanzen und Blüten, die sie getrocknet und gepresst in Alben zusammenstellte. Itamar Gov hat aus den Alben Arten zusammengestellt, die gerade Blütezeit haben, und daraus am Ufer der Spree „A Garden for Rosa“ zusammengestellt. Unauffällig am Fuße der Brücke über die Spree, gegenüber vom Schloss Bellevue, bilden sie als Repräsentation der sozialistischen Vorkämpferin ihr stilles Denkmal. Ganz in Luxemburgs Stil nicht aus Erz oder Eisen, sondern aus Blumen, die das gegenüber residierende Staatsoberhaupt nicht aus dem Blick lassen. Die Gefahr, dass sich Sonnenhungrige versehentlich auf die Intervention legen, ist bei „The Forage“ einkalkulierter Teil des Konzepts. Kunst kann im wirklichen Leben, außerhalb schützender Institutionen, besonders wirksam sein, ist der Umgebung aber eben auch ausgesetzt.
Oder gleich als Konsumprodukt angelegt, wie „power caramel ~ I will be there for you“ von Maki Ishii. Die gebürtige Japanerin hat tatsächliche Toffees in das Sortiment einer Bäckerei in der Wiclefstraße platziert. Die Schachteln sind mit freundlichen Begriffen bedruckt. Wenn man schon nicht reisen kann, findet man in diesen Süßigkeiten Grüße aus einem fernen Land, dessen Bewohner gerade dieselben Probleme auszustehen haben wie wir: eine freundliche Verbindung.
Nicht alle Stationen sind so arglos, manche lauern dem Betrachter regelrecht auf. Die „Scarecrow/Strawman/Strohmann/Oz“ hat Steven Warwick auf einem Hügel im Fritz-Schloß-Park platziert. Im Gebüsch hinter Parkbänken kauert eine dunkle Gestalt mit unsichtbarem Kopf. Zumindest auf den ersten Blick, denn der zweite verrät, dass die an die Vogelscheuche aus dem „Zauberer von Oz“ angelegte Skulptur einen Kohl als Kopf hat. Die eigentlich liebenswerte Figur des Strohmanns wird mit doppelbödiger Unheimlichkeit aufgeladen. An diesem Ort kann ihre Ambiguität die Phantasie der Leute anregen, die im Park spazieren gehen.
Inzwischen scheinen sich Lockerungen der durch Corona erforderlichen Einschränkungen abzuzeichnen. Theresa Kampmeier freut sich darüber, denn die Arbeit des Kollektivs Æ wird sich dadurch keineswegs erübrigen. Das Independent-Projekt zeigt die Möglichkeiten einer durch keine Vorgaben von Markt, Sponsor oder Förderprogramm beeinflussten Kunst und bestätigt zugleich die Idee von FLUXUS: Kunst ist nicht auf offizielle Kunsträume beschränkt, sondern fließt ins tägliche Leben ein und entfaltet sich dort. Wenige Tage nach dem 100. Geburtstag von Joseph Beuys, der FLUXUS so nachhaltig mitgeprägt hat, lädt „The Forage“ ein, Kunst – sei es auch nur ganz nebenbei – in seine Spaziergänge an diesem Wochenende einfließen zu lassen.
Bis 16. Mai, Skulpturenroute im öffentlichen Raum Berlin-Moabits
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