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Mit Fantasy durch die Pandemie

Keine Angst vor Streaming: Die Online-Ausgabe des arabischen Filmfestivals Alfilm mit Spotlight auf aktuelle arabische Genrefilme bietet eines der interessantesten Filmangebote des Monats

Präzise beobachtetes Porträt: der Dokumentarfilm „My English Cousin“ Foto: Alfilm

Von Fabian Tietke

Die erste Kapitelüberschrift lautet „Das Scheißleben-Syndrom“: Karim Sayad porträtiert im Dokumentarfilm „My English Cousin“ das Leben von Fahed, der aus Algerien nach Großbritannien übergesiedelt ist, um sich eine Zukunft aufzubauen. Wie aussichtslos das Unterfangen ist, führt Faheds Chef in der ersten Einstellung vor Augen, während die beiden Zutaten für Kebab vorbereiten: Zwanzig Jahre lang müsste Fahed jeweils 3.000 Euro sparen, um sich dann von dem Geld ein Haus in Algerien zu bauen. Abends sitzt er müde auf dem Sofa, morgens klingelt in aller Frühe der Wecker. „My English Cousin“ beginnt als präzise beobachtetes Porträt und weitet den Blick, sobald er Fahed auf seine desillusionierten britischen Mitbewohner treffen lässt.

Sayads Film ist Teil des Hauptprogramms der diesjährigen Ausgabe des arabischen Filmfestivals Alfilm. Obwohl pandemiebedingt die Online-Angebote allen zu den Ohren raushängen, versucht sich das Festival notgedrungen an einer Streamingausgabe – und lockt dabei mit einem der interessantesten Filmangebote des Monats.

Dazu gehört auch der marokkanische Beitrag „Adam“. Obwohl sie hochschwanger ist, zieht Samia von Tür zu Tür in Casablanca auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft. Schließlich klopft sie bei Abla, die eine kleine, mäßig laufende Bäckerei betreibt. Nachdem sie sie zunächst abgewiesen hat, lässt sie Samia schließlich doch ein, lässt sie auf dem Sofa schlafen. Nach ein paar Tagen erweitert Samia das Angebot der Bäckerei eigenmächtig um süßes Gebäck. Ein Verkaufsschlager.

Abla beginnt, die Hilfe der jungen Frau anzunehmen. Für Samia wiederum nähert sich der Geburtstermin ihres unehelichen Kindes. Maryam Touzanis „Adam“ ist ein intimer, sinnlicher Film über zwei Frauen, die gegenseitig ihre Leben verändern. Produziert wurde er von Touzanis Mann, dem marokkanischen Regisseur Nabil Ayouch.

Ende letzten Jahres kam die Nachricht, dass Alfilm in diesem Jahr unter neuer Führung laufen wird. Claudia Jubeh und Fadi Abdelnour, die das Festival von Beginn an bewährt und mit Sinn für das Miteinander von Entdeckungen und der Vermittlung von Filmgeschichte leiteten, haben die Leitung an Karin Schyle und Pascale Fakhry abgegeben.

Eines der Ergebnisse des Führungswechsels dürfte das Spotlight auf aktuelle arabische Genrefilme sein. „Genres Revisited“ versammelt eine kleine Auswahl neuerer und weniger neuer Filme. Elia Suleimans moderner Klassiker „Divine Intervention“ findet in einem komödiantischen Actionfilm eine ungewohnte Perspektive auf den palästinensisch-israelischen Grenzverkehr. Der junge algerisch-französische Regisseur Amin Sidi-Boumédiène reanimiert ein Subgenre, das Anfang der 2000er Jahre auserzählt schien. „Abou Leila“ schickt zwei Freunde inmitten des algerischen Bürgerkriegs der 1990er Jahre auf einen Trip durch das Land. Das Ziel ist, den Terroristen Abou Leila zu stellen. Doch während des Trips tritt bei einem der beiden ein Trauma immer weiter an die Oberfläche, und Realität und Delirien durchdringen sich immer unzertrennlicher.

Waren die Filme der frühen 2000er Jahre über den algerischen Bürgerkrieg oft etwas biedere Vermittlungsversuche des politischen Kuddelmuddels von Islamismus, korrupten Geheimdiensten und Seilschaften des FLN, nutzt Sidi-Boumédiène den Bürgerkrieg geschickt als Hintergrund, mit dem er über mehr als nur die algerische Vergangenheit reden kann. Die beiden Freunde unternehmen eine Reise durch Paranoia und Terror.

Opfer nach Opfer wird in den Straßen von Beirut aufgefunden

Den Höhepunkt von Alfilm bildet Ghassan Salhabs Versuch, sich der libanesischen Gegenwart in einem Vampirfilm zu nähern. Auch „The Last Man“ sind die Manierismen von Salhabs übrigen Filmen nicht fremd, doch kontert Salhab diesmal mit einer subtilen Spannung. Opfer nach Opfer wird in den Straßen von Beirut mit seltsamen Wunden am Hals aufgefunden. Zugleich beginnt der Arzt Khalil an sich selbst seltsame Veränderungen wahrzunehmen.

„The Last Man“ lebt nicht zuletzt von seinem Hauptdarsteller. Carlos Chahine spielt Khalil als stillen Mann, der stets wie von der Welt um ihn herum entkoppelt wirkt. Die Umgebung scheint sich an ihm vorbeizuschieben, ohne ihn zu tangieren. Weltentkopplung hätte Shahad Ameens „Scales“ wiederum durchaus gutgetan. „Scales“ ist ein bildgewaltiger und sehenswerter Versuch eines Fantasyfilms, der sich unter dem Ballast einer Parabelhandlung zu berappeln versucht.

Auch bei Alfilm sehnt man das Ende der Pandemie und der von ihr erzwungenen Flucht in die Streaming-Angebote herbei. In der Zwischenzeit bietet das Festival in bewährter Weise sehenswerte Entdeckungen des arabischen Films.

Alfilm, 21. bis 30. April online über indiekino-club.de

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