piwik no script img

Da stockt die Zunge

Nach der Bundestagswahl in der „Tagesschau“: die Ansage mit Bundeskanzlerin Baerbock

Dienstag, 26. Oktober 2021. Es ist 20 Uhr. Die Abendausgabe der „Tagesschau“ beginnt, die Fanfare erklingt. Rund 15 Millionen Zuschauer sitzen vor den Fernsehgeräten und warten gespannt auf die Mutter aller Meldungen. Chefsprecher Jens Riewa hat es sich nicht nehmen lassen, an diesem historischen Abend persönlich die Nachrichten zu verlesen.

Noch bevor Riewa eingeblendet wird, zeigt ein kurzer Einspieler Annalena Baerbock an einem Mikrofon im Plenarsaal des Bundestags, sie antwortet dem Alterspräsidenten der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestags auf seine Frage: „Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.“

Schnitt auf Jens Riewa: „Guten Abend, meine Damen und Herren. Mit 372 von 709 Stimmen ist die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock heute vom Deutschen Bundestag zur neuen Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden.“

Und jetzt kommt der große Moment, auf den das Publikum, aber auch Jens Riewa gewartet hat, seine trainierte Zunge scheint einen Moment zu stocken, ist sie doch die alte Konstellation der Wörter „Bundeskanzlerin“ und „Merkel“ mehr als gewöhnt, sodass es dem Sprecher kaum über die Lippen kommen will, doch irgendwann ist immer das erste Mal, und jetzt spricht er es tatsächlich aus: „Bundeskanzlerin Baerbock …“

Das große Werk ist vollbracht. Erst wenn Jens Riewa es in der „Tagesschau“ ausspricht, ist es wahr. Jubel bricht im gesamten Land aus, durch die trotz der herbstlichen Kälte geöffneten Millionen Fenster fliegen in den Nachthimmel Sektkorken, Feuerwerksraketen, Bienen, Zeppeline, Hüte, Kinder … Kinder?

Verwirrt, verschlafen, verknuspert wacht Annalena Baerbock auf. Es braucht eine Weile, bis sie begreift, wo sie ist und dass sie geträumt hat. Sie als Kanzlerin? Die kleine piepsige Annalena! So ein Quatsch! Moment! Sie ist doch die große Vorsitzende! Aber hallo! Noch sechs Monate, dann ist es soweit. Aber warum ist eigentlich dieser Jens Riewa Chefsprecher und nicht sie selbst? Annalena Baerbock kramt ihr dickes Notizbuch vom Nachttisch und notiert auf ihrer langen To-do-Liste: „Tagesschau!“ Dann schläft die Baldkanzlerin zufrieden wieder ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen