Mannheim vor der Landtagswahl: Stadt der Quadrate
Mannheim verwandelt. Statt des Kloppervereins SV Waldhof bestimmt heute die Popakademie das Image der Stadt. Was bewegt die Menschen im Wahlkampf?
Guter Strukturwandel, schlechter Strukturwandel. Mannheim, mit rund 320.000 Einwohner:innen zweitgrößte Metropole des Bundeslands Baden-Württemberg, kennt beide Seiten. Es mag an Corona liegen oder an der traditionellen badisch-schwäbischen Konkurrenz, die fast schon Rivalität ist: Die Landespolitik in Stuttgart scheint hier auch in der Endphase des Wahlkampfs ein Stück weit weg zu sein. Es mag auch am Stolz der Mannheimer liegen, an ihrem skurrilen Dialekt, bei dem gerne Konsonanten verschluckt werden und Worte singend ineinander fließen.
Es mag an dem Status als Industriestadt mit langer proletarischer Tradition liegen, in der etwa das Fahrrad erfunden wurde, und wo es nach wie vor produzierende Industrie gibt. Es mag an der günstigen geographischen Lage liegen: Mannheim ist wichtiges Handelszentrum im Südwesten, Knotenpunkt der Region Rhein-Neckar, mit dem zweitgrößten Binnenhafen Deutschlands. Und es ist Universitätsstadt mit eigener Musikhochschule, renommiertem wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Zweig und der einzigen „Pop-Akademie“ Deutschlands, eröffnet 2003. Diese Wissensökonomie hat sich allerdings erst seit den 1990-er Jahren angesiedelt.
Zuvor galt Mannheim als Problemzone mit sozialen Brennpunkten, Schmuddelkind des Bundeslands. Sinnbild sein Klopper-Fußballverein SV Waldhof um den rechtsradikalen Trainer Klaus Schlappner. Dieses Image wollte Mehmet Ungan ändern, darum ist er in Mannheim geblieben und hat mit dazu beigetragen, die Stadt lebenswerter zu machen. Man spürt seine Energie sofort, wenn man mit ihm spricht, seine Freundlichkeit ist ansteckend. Ungan, geboren 1957, aufgewachsen im Süden der Türkei, kam 1976 nach Mannheim zum Studium der Soziologie. Nebenher spielte er in der lokalen Rockszene Gitarre und schloss viele Freundschaften, die bis heute bestehen.
Integratives Denken
„Ich bin nicht nur Migrant, ich bin Musiker, Deutscher, Vater, Sozialarbeiter, alle Ebenen sind wichtig. Ich denke integrativ, so funktioniert das im Alltag am besten. Ich habe immer davon geträumt, eine Schule zu haben, die östliche und westliche Musikwerte vereint.“ 2007 hat Ungan seinen Traum verwirklicht und die „Orientalische Musikakademie“ im Stadtteil Jungbusch gestartet. In Eigeninitiative wohlgemerkt, Förderung durch die Stadt kam erst später. Auch die Landesregierung wurde auf ihn aufmerksam, aber Ungan fühlt sich vor allem dem Oberbürgermeister Kurz zu Dank verpflichtet.
Namhafte Musiker:innen veranstalten Workshops, unterrichten in Schulen, Kitas und Jugendzentren. Einige lehren inzwischen auch den Studiengang „Weltmusik“ an der Pop-Akademie. In verschiedenen Milieus wird eng mit jeweils anderen Institutionen kollaboriert. Eine echte Erfolgsgeschichte, aber Ungan betont, wie wichtig „niedrigschwellige“ Sozialarbeit im Stadtviertel Jungbusch bleibt, um Leute zu erreichen. Und er erzählt, wie er momentan trotz aller Coronaschwierigkeiten junge bulgarische Roma an der Gitarre unterrichtet, manche türkischen Bekannten rümpfen da die Nase. Aber: „Ethnozentrismus ist falsch, man braucht einen weiten Blick. Das geht in Mannheim, weil die Menschen offen sind. Ich fühle ich mich hier nie fremd. Es ist seit Ewigkeiten ein Ort der Veränderung.“
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Mannheim ist erkennbar multikulturell, 170 verschiedene Nationalitäten leben hier. Die City um den Marktplatz und „die Quadrate“, die gitterförmig angelegten, dicht bebauten Straßen der Altstadt, die keine Straßennamen haben, sondern Buchstaben und Ziffern, sind ein Beispiel für diesen Alltag, der nicht immer reibungslos verläuft, aber oft besser als anderswo. Migrant:innen führen Läden, Boutiquen, Restaurants. An den Wochenenden kommen deshalb Menschen aus dem nahen Frankreich, der Schweiz, sogar aus Benelux zum Shoppen und Verweilen, tragen ihr Geld in die Stadt. „Mannheim ist Mittelmeer von Deutschland“, hat ein türkisch-französischer Restaurantbesucher mal zu Ungan gesagt.
Ehrenamtlich für die Musikszene
Diese weltoffene Seite schätzen auch Matti Kunstek (39) und Dennis Borlein (41), die seit 2007 unter dem Namen „Steady Works By Dear Friends“ Technopartys in Mannheim und Heidelberg veranstalten und seit 2017 ein Label gleichen Namens führen, auf dem die Musik der lokalen Elektronik-Szene veröffentlicht wird. Es ist ehrenamtliche Arbeit, sie wollen damit das lokale Musikschaffen dokumentieren, Geld verdienen beide mit anderen Jobs.
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„Kultur ist Kommunikation und Kommunikation entsteht durch Zusammensein, genau solche Räume zu schaffen, darum geht es uns. Was die Mannheimer Kultur ausmacht, ist ihre Vielfältigkeit. Sei es ein diverser Club wie ‚Disco 2‘, sei es das Autonome Jugendzentrum, oder seien es die Teestuben von migrantischen Vereinen“, erklärt Kunstek. Mannheim profitiere zwar von der Popakademie, die im Viertel Jungbusch angesiedelt ist. Aber Kunstek und Borlein nervt, dass viele Absolvent:Innen die Stadt nur als Rampe benutzen, die sie dann nach Berlin auf die große Showbühne katapultieren soll.
Durch Corona habe sich ihr Bewegungsradius verkleinert, sagt Borlein. Das sei betrüblich. Sie selbst kommen zurecht, aber sie kennen Leute, die durch Corona in Hartz IV gerutscht sind, ganze Existenzen stehen auf dem Spiel. „Wertschöpfungsketten sind kaputt. Musiker:innen müssen in Vorleistung gehen, kriegen momentan aber nichts zurück. Tontechniker:innen und Tresenkräften geht es schlecht. Das Geld, das durch Corona reingepumpt wird, ist nicht gerecht verteilt. Viele Künstler:innen, die in kleineren Projekten engagiert waren, gehen leer aus. Es gibt zwar Fördertöpfe für Kultur auf Landesebene, aber das betrifft nicht die breite Masse“, schimpft Kunstek. Selbst namhafte DJs, die im Ausland vierstellige Gagen erhalten, müssen seit Corona knapsen. Die Stille geht nicht ewig so weiter. „Die Antragshürden für Finanzhilfen waren zwar nicht hoch, da kam man ran“, sagt Borlein, „aber wenn das jetzt noch das ganze Jahr weitergeht, wird es eng.“
„Alle gucken nur noch auf Zahlen und Inzidenzwerte. Als gäbe es keine anderen Krankheiten mehr außer Corona. Gut, dass wenigstens der Mannheimer CDU-ler Nikolas Löbel wegen seiner Maskenaffäre zurückgetreten ist.“ DJ und Techno-Produzent Ray Okpara zeigt sich erleichtert. Wie Viele musste sich auch Okpara einen Job suchen, damit er während Corona über die Runden kommt. „Mein Sohn hat mich letztens gefragt, warum ich Musiker wurde, da habe ich ihm gesagt, eigentlich bin ich Lebenskünstler!“
Okpara, der in Gelsenkirchen geboren ist und einen Teil seiner Kindheit in Nigeria verbracht hat, lebt seit 1988 – mit zwei Berliner Intermezzi – in Mannheim. Aus seiner Kindheit erinnert er sich an unschöne Szenen auf badischen Weinfesten, er hat längst gelernt, sich gegen Rassismus zu wehren. „Hier kann man gut mit Toleranz umgehen“, erklärt Okpara und freut sich, dass mal ein Journalist anklopft.
„Mannheim hatte bis vor wenigen Jahren eine große Garnison der US-Army. Die [Link auf https://taz.de/Vaeter-der-Konzept-Musik/!360700/] Amis haben viel dazu beigetragen, dass ihre Kultur mit uns verschmolzen ist. So kamen Jazz und Soul in den 1960-ern hierher, später Funk und HipHop. Seit die Amis weg sind, besinnt sich Mannheim mehr auf sich selbst. Es bleibt interessant.“ Froh macht ihn, dass die Stadt inzwischen auch als Filmkulisse dient. Der Antifa-Blockbuster „Und morgen die ganze Welt“ der Regisseurin Julia Von Heinz wurde hier an Original-Schauplätzen gedreht.
Guter Strukturwandel, schlechter Strukturwandel. Auch in Mannheim ist der Mietspiegel angestiegen. Aber nur leicht und nicht zu vergleichen mit dem Wahnsinn in München und Berlin. Im Windschatten der Pop-Akademie haben sich Start-Ups angesiedelt. Die Stadt hat sich den Klimazielen der UN verpflichtet. Auch dank der ehemaligen US-Kasernen gibt es Raum für alle sozialen Schichten und es gibt große Konversionsflächen. Erst kürzlich wurde ein Wohngebiet erschlossen, dessen Fläche größer ist als die der gesamten Innenstadt.
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