Zornige Migrantifa

Selten war der Hermannplatz so still. Trotz Pandemie gehen 10.000 Menschen auf die Straße. Sie erinnern an die Ermordeten in Hanau

Leittransparent statt Leitkultur: Gedenkdemo für Hanau in Neukölln Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Von Stefan Hunglinger

Zunächst sind es 4.000 Menschen, die sich am Samstag bei Sonnenschein am S-Bahnhof Hermannstraße versammeln. Sie wollen das Erinnern an den rechtsextremen Terroranschlag in Hanau mit politischen Forderungen verbinden. „Hanau war kein Einzelfall“ steht auf einigen Plakaten, „Hanau! Das war deutsche Leitkultur“ auf einem Transparent.

Auch Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland ist zur Hermannstraße gekommen, um Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu zu gedenken. „Berlin ist nicht besser als Hanau oder Hamburg“, sagt er. Auch hier stellten rassistische Strukturen eine anhaltende Gefahr dar. Rechtsextremer Terror würde über Jahre hinweg nicht aufgeklärt. Della erinnert an die rechte Terrorserie in Neukölln und den Mord an Burak Bektaş. „Doch Hanau hat dazu geführt, dass sich berlinweit ein antirassistisches Netzwerk bildet. Die Initiativen rücken zusammen.“

Migrantifa Berlin, Aktionsbündnis Antirassismus, Kein Generalverdacht, Roma Trial, Young Struggle und We’ll Come United haben gemeinsam zur Demo aufgerufen. Aber auch kurdische, Schwarze, lateinamerikanische Stimmen und Gruppen kommen zu Wort, als sich die Demonstration in Richtung Hermannplatz auf den Weg macht – vorbei an Cafés und Shishabars, die den Hanauer Tatorten nicht unähnlich sind. Immer wieder werden die Namen der jungen Menschen aus Hanau vorgelesen und skandiert. Applaus brandet auf, als An­woh­ne­r*in­nen ein Transparent mit den neun Namen von ihrem Balkon hängen. Einige Straßenschilder werden überklebt. So wird aus der Neuköllner Sonnenallee die „Ferhat-Unvar-Straße“, aus der Pflüger- die „Sedat-Gürbüz-Straße“.

„Die Institutionen haben vor, während und nach Hanau versagt“, heißt es vom Lautsprecherwagen. Der deutsche Rassismus zeige sich jedoch nicht nur in medialen „Clan“-Narrativen, in unverhinderten und schlecht aufgeklärten Morden. Rassismus zeige sich auch in der Ausbeutung des Globalen Südens, in illegalen Pushbacks von Menschen auf der Flucht und in Abschiebungen während einer globalen Pandemie.

Berührend kämpferisch

Nahezu alle Menschen auf dieser Demonstration, die laut Veranstaltenden auf 10.000 Teilnehmende anwächst, tragen einen medizinischen Mund-Nasen-Schutz. Erwartet wurden ursprünglich 900 Menschen. Die Polizei sprach von 6.000 Teilnehmenden. Immer wieder weist die Versammlungsleitung auf die notwendigen Abstände hin. Den beiden Mo­de­ra­to­r*in­nen gelingt es mit sehr klaren und umsichtigen Ansagen, eine verantwortliche, zuweilen berührende und doch kämpferische Atmosphäre zu erzeugen. Sie beschwören die Protestierenden, auf Alkohol zu verzichten genauso wie auf „autonome Selbstinszenierungen“. Und sie erinnern daran, auf sich zu achten: „Alltäglicher Rassismus ist anstrengend. Viele von uns sind erschöpft. Zwingt euch nicht, bis zum Ende der Demo durchzuhalten.“

Doch die Menschen bleiben. Sie thematisieren vor dem Neuköllner Rathaus die Verdrängung migrantischer Menschen im Bezirk. Vor der Polizeidirektion in der Sonnenallee macht die Initiative Death in Custody den Mord an Oury Jalloh und anderer in Polizeigewahrsam umgekommener Schwarzer zum Thema. „Wer den Namen Oury Jalloh noch nie gehört hat – was für ein Privileg“.

Über den Hermannplatz dann schallen über Lautprecher zuerst die Grußworte von Angehörigen und Überlebenden aus Hanau. Es folgt der eindrücklichste Moment der Demo: Fast vollkommene Stille legt sich über den ansonsten so belebten Neuköllner Hauptplatz, 10.000 Menschen setzen sich für eine Schweigeminute auf den kalten Boden.

Gegen 19 Uhr endet der Zug dieser neuartigen, zornig-zärtlichen Migrantifa-Bewegung am Kreuzberger Oranienplatz, einem Symbolort der Selbstorganisierung von Geflüchteten. Zuvor sind nahe der Synagoge am Fraen­kel­ufer die „jüdischen Geschwister, die gerade Shabbat machen“ gegrüßt worden. Am O-Platz blickt man nach vorn: „Wir werden nicht aufhören, uns zu organisieren und zu protestieren“, heißt es da. Und: „Wir werden selbst Hanau und Halle zur Zäsur machen. Unsere Antwort wird Solidarität sein.“