: Ein genialisches Pokerface
Zwischen historischem Experiment und adriatischem Glamour: Marie-Janine Calic will die historische Person Tito hinter dem Mythos freilegen
Marie-Janine Calic: „Tito. Der ewige Partisan“. C.H. Beck, München 2020, 442 S., 29,95 Euro
Von Doris Akrap
Diktator, Verräter, Bolschewist, Lakai des Westens – der jugoslawische Staatsgründer Tito hatte sich schon zu Lebzeiten viel vorwerfen lassen müssen. Auf allen Seiten des Kalten Krieges wurde er als Agent der jeweils anderen Seite verdächtigt. Sonderlich interessiert hat ihn, den Erfinder des Coca-Cola-Sozialismus, das nicht. Vor allem deswegen nicht, weil es nicht stimmte. Oder nur sehr eingeschränkt. Die aus heutiger Perspektive vielleicht härteste Kritik lautete: „Tito hat die Macht zu machen, was er will. Aber er nutzt sie nicht.“
Der Satz stammt vom jugoslawischen Reformpolitiker Marko Nikezić, der 1972 im Zug einer politischen Säuberungswelle alle seine Ämter verlor. In diesem seinen Satz steckt zum einen das Zugeständnis, dass Tito es geschafft hatte, sowohl innerhalb seines eigenen Landes als auch außerhalb ein charismatischer, bewunderter und respektierter Politiker zu werden. Der einzige europäische Politiker, der einen eigenen Weg zwischen den beiden Weltlagern USA und UDSSR gebahnt hatte, der als „Dritter Weg“ und als „Bewegung der Blockfreien“ in die Geschichte einging. Aber in Nikezić’ Satz steckt auch die Kritik, dass Tito irgendwo auf diesem Weg stecken geblieben war.
Zu lesen ist der Satz in der neuen Biografie „Tito, der ewige Partisan“, die von der Historikerin Marie-Janine Calic geschrieben wurde, einer Spezialistin für die Geschichte Jugoslawiens. Calic beschreibt das Leben der Jahrhundertfigur vom Balkan – geboren 1892 im bitterarmen bäuerlichen Hinterland Kroatiens, gestorben 1980 als sozialistischer Staatspräsident, zu dessen Begräbnis 209 Delegationen aus 128 Nationen, darunter 4 Könige, 6 Prinzen, 31 Präsidenten, 22 Premierminister und 4 Außenminister anreisten – so komprimiert wie detailliert. Eindrücklich zeigt sie auf knapp 400 Seiten, wie eng die Gründung, Gestaltung und der Fortbestand der sozialistischen Föderation mit dem Charakter, dem politischen Instinkt und den Freundschaften, Loyalitäten und der Willenskraft seines Gründers zusammenhingen.
Bei so einer schillernden Figur wie Tito nicht in schwärmerische Romantik oder abgrundtiefe Abscheu zu geraten, ist nicht so einfach. Trotz seiner biopichaften Lebensführung auf den Schlachtfeldern des 20. Jahrhunderts, auf den Gipfeln der internationalen Politik, auf Yachten, in Luxuslimousinen, an Filmsets und adriatischen Inseln gelingt es der Autorin Calic, die Figur des legendären Partisanenführers Josip Broz auf eine Distanz zu halten, die einen unideologischen, ungeschönten, aber auch respektvollen und wertschätzenden Blick erlaubt.
Calic beschreibt sowohl den sozialistischen Weltpolitiker, der von US-Präsident Richard Nixon als „Riese auf der Weltbühne“ bezeichnet, von Queen Elisabeth mit einem Ritterorden ausgezeichnet, von Charlie Chaplin für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen und von Papst Paul IV. als „Anwalt des Weltfriedens“bezeichnet wurde. Aber sie beschreibt auch den kaltblütigen Tyrannen, der, um seine Macht zu erhalten, über Leichen ging. Zwar waren das vergleichsweise wenige, aber der Befreier von Faschismus und Stalinismus, der „Alte“, wie er schon zu Beginn seiner Partisanenzeit von seinen Genossen genannt wurde, wollte um jeden Preis verhindern, dass die von ihm gestiftete „Einheit und Brüderlichkeit“ des politisch, religiös, gesellschaftlich und geografisch extrem zerklüfteten Jugoslawiens auseinanderfiel.
Er opferte alles, um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens zu verhindern. Auch Menschenleben. Aber er gab auch alles, um den Bewohnern des Landes so viel Freiheit wie möglich zu gestatten und ein einmaliges historisches Experiment zu wagen: nicht nur Reise-, Meinungs- und Kunstfreiheit waren zwischenzeitlich so groß wie im Westen, sondern auch die Freiheit aller Arbeitenden, selbst zu entscheiden, was und wie viel ihre Betriebe produzieren sollten, wurde ermöglicht: das Modell der Arbeiterselbstverwaltung.
Tito bevorzugte die Vereinnahmung vor der Einschüchterung von dissidenten Künstlern, Intellektuellen, Kombattanten, schreibt Calic. Und auch investierte er in den 1960er Jahren lieber in Soziologie- und Philsophieinstitute als in den Geheimdienst und änderte seine Rolle im Laufe der Jahre vom weichen Diktator zum Moderator und Schiedsrichter, den seine Rolle auf dem Weltparkett mehr interessierte, als die Innenpolitik seines Landes zu kontrollieren.
Und trotzdem, so Calic, gab es in Titos Herrschaftsrepertoire immer auch den „repressiven Bodensatz“: die tödliche Rache an den fliehenden Faschisten und Quislingen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die zur Abschreckung auf der Kahlen Insel inhaftierten und gefolterten Stalinisten, die Liquidierung von konterrevolutionären Exiljugoslawen oder die Unterdrückung der nationalen Aufstände in den Republiken.
Im Fokus von Calics Biografie liegt das politische Geschick, das strategische Genie, das Pokerface von Tito. Zwar erfährt man auch einiges über dessen Verhältnis zu Ehefrauen und Kindern, über seine Leidenschaft für Stars, Filme, gutes Essen und ausgewählte Kleidung, man sieht Fotos, auf denen er mit der Schauspielerin Sophia Loren Pasta kocht und mit Willy Brandt bei Whisky und Zigarre chillt.
So wie Tito sein ganzes Leben der Politik verschrieb, so schreibt auch Calic über Titos Leben als politisches Vermächtnis. „Titos Jugoslawien“ schreibt Calic, „entzieht sich geläufiger politikwissenschaftlicher und zeithistorischer Kategorienbildung.“
Doch sei es nicht trivial, nach einem neuen Oberbegriff für diesen integrativen Autokraten, dessen Staat weder totalitär noch demokratisch gewesen sei, zu suchen, anstatt sein Erbe in den Trümmern der postjugoslawischen Sezessionskriege liegen zu lassen. Apropos Erbe: Der einzige Privatbesitz, den Tito zu vererben hatte, war ein kleiner Weinberg in der Nähe von Zagreb. Den Rest hat „der Alte“ dem Staat Jugoslawien überlassen.
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