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„Corona wirkt wie ein Brand-beschleuniger“

„Der erste Lockdown war wie ein Schock, in dem sich aber viele Menschen einrichten konnten. Dieser Lockdown war zeitlich begrenzt, die meisten haben an einem Strang gezogen. Es gab eine Art Konsens: Jetzt machen wir mal alle ein bisschen ruhiger und ziehen uns zurück, damit wir dieses Virus wieder loswerden. Ich habe auch oft gehört: ‚Ach, das ist gar nicht so schlecht, weil ich habe mir ohnehin vorgenommen ein bisschen weniger zu arbeiten.‘

Im zweiten Lockdown ist das nun anders. Man merkt im Grunde, dass die aushaltbare Perspektive weggebrochen ist. Es gibt einen Ausspruch des Wiener Psychiaters und Existenzanalytikers Viktor Frankl: Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie. Dieses ‚Warum‘ bzw. ‚Wozu‘ ist gerade nicht mehr so klar definiert. Natürlich will man die Infek­tions­zahlen runte kriegen, aber niemand weiß aktuell, wo das hinführt. Es herrscht also auch ein Stück Hoffnungslosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins.

Wir haben wenig Menschen in der Beratung, die direkt sagen, dass sie Angst vor dem Virus oder einer Ansteckung hätten. Corona wirkt vielmehr wie ein Brandbeschleuniger für Probleme, die latent auch vorher schon da waren. In unsere Beratung ‚Offene Tür‘ kommen viele Paare. Letzte Woche meldete sich ein Ehepaar, das beschlossen hatte, sich scheiden zu lassen. Das war ohnehin bereits eine sehr belastete Beziehung, der Lockdown aber lässt die Lage eskalieren. Der Mann mit cholerischer Neigung arbeitet im Homeoffice. Die Frau ist kurz davor, ihre Arbeit zu verlieren. Es gibt kleine Kinder, die nicht in die Kita und Schule können, denen es mit der angespannten Situation zu Hause sehr schlecht geht. Eine rasch vollzogene Trennung brächte eine dringend notwendige Entschärfung des Konflikts mit sich. Nun gibt es durch Corona aber nicht ohne Weiteres einen Termin beim Anwalt oder Gericht. Auch eine Wohnung zu finden ist momentan schwieriger als sonst. Der enorme Druck, der auf dieser Familie lastet, findet durch den Lockdown gerade keine Möglichkeit, zu entweichen.“

Dr. Thomas Herzog, Offene Tür Berlin e. V., ­protokolliert von Daniel Böldt

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