Obdachlosigkeit in Berlin: Kollidierende Lebenswelten

Die Berliner Stadtmission eröffnet eine neue Beratungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte am Bahnhof Zoo. Es ist ein bundesweit einmaliges Projekt.

Ein lichtdurchfluteter Raum mit mehreren Stühlen, die so positioniert sind, dass Abstände eingehalten werden können. Links im Bild ist eine Küchenzeile, rechts ein Fernseher auszumachen. Der Raum befindet sich in einem renovierten Backsteingewölbe.

Ein Klassenzimmer gegen Vorurteile: Seminarraum im Zentrum Zoo Foto: Annette Riedl/dpa

BERLIN taz | Wer im neuen „Zentrum am Zoo“ der Berliner Stadtmission den Blick zur Decke richtet, der erblickt Gefängnisgitter. Sie sollen die Vergangenheit des Ortes und die Realitäten im Leben obdachloser Menschen symbolisieren, erklärt Projektkoordinator Wolfgang Nebel. Denn das 500 Quadratmeter große Areal war bis in die 1980er als Polizeistation 24 bekannt – auch Christiane F. hat hier so manche Nacht in Gewahrsam verbracht.

Keine feste Bleibe Als wohnungslos gelten Menschen, die keinen gültigen Mietvertrag besitzen und etwa behelfsmäßig in Wohnheimen oder bei Freunden übernachten. Als obdachlos gelten Menschen, die weder festen Wohnsitz noch Unterkunft besitzen und deshalb auf der Straße, in Parks oder auf Bahnhöfen schlafen.

Schätzungen Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) ging 2020 von rund 34.000 Wohnungs­­losen allein in Berlin aus. Laut Berliner Stadtmission schätzen Caritas und Diakonisches Werk die Anzahl der obdachlosen Berliner:innen auf etwa 11.000. Eine Zählung im Januar 2020 ergab mit 1.976 zwar eine viel geringere Zahl, viele Verbände kritisierten aber, dass etwa Parks oder nicht öffentlich zugängliche Orte nicht berücksichtigt wurden. (tk)

Am Mittwoch wurde das Zentrum digital eröffnet. Via Videobotschaft war unter anderen der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) dabei. Tags zuvor hatte Projektkoordinator Nebel der taz erklärt, das Neue – die „Vision“ in Nebels Worten – sei das Zusammenspiel der „drei B“ des Projekts: Beratung, Bildung und Begegnung.

Beratung bedeute, dass Psy­cho­lo­g:in­nen hier niedrigschwellige Hilfestellungen anbieten, die von je­der:m kostenlos in Anspruch genommen werden können. Dies geschehe bereits jetzt, nur eben draußen, erklärt Psychologin Dagmara Lutoslawska. Doch nun stünden Schutzräume zur Verfügung, die auch eine längerfristige und regelmäßige Betreuungsarbeit ermöglichen.

Parallel soll es laut Nebel Bildungsangebote geben, die das Ziel verfolgen, Schulklassen, Institutionen und Interessierte für die oft schleichende Entstehung von Armut und Obdachlosigkeit zu sensibilisieren. Unter anderem sollen die Sicherheitsdienste der Deutschen Bahn hier Schulungen erhalten. Es gehe darum, die oft gravierend unterschiedlichen Lebenswelten miteinander zu verbinden, so Nebel.

Begegnungen auf Augenhöhe

Dieses Ziel sei letztlich aber nur durch persönliche Begegnung zu verwirklichen, was durch vielfältige kulturelle und religiöse Veranstaltungen ermöglicht werden soll. Zu Konzerten, Filmabenden oder Andachten seien obdachlose wie nicht obdachlose Menschen eingeladen, sagt Nebel. So könnten Begegnungen in einem würdevollen Rahmen entstehen. Zudem würde obdachlosen Menschen die Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.

Das Zentrum befindet sich in unmittelbarer Nähe der Bahnhofsmission und des Hygienecenters in der Jebensstraße, die ebenfalls von der Berliner Stadtmission betrieben werden. Hier seien die Räumlichkeiten aber zu eng geworden, so Nebel. Die Deutsche Bahn habe daraufhin das Areal für 25 Jahre samt den laufenden Betriebskosten mietfrei zur Verfügung gestellt.

Die Baukosten in Höhe von rund 2,4 Millionen Euro seien von Bund, Senat, der Deutschen Klassenlotterie und anderen ­privaten Spen­de­r:in­nen finanziert worden. Um- und Ausbau seien in nur anderthalb Jahren erfolgt.

Nebel will sich bei der Umsetzung seiner „Vision“ vom Glauben leiten lassen und zu fortwährender Veränderung bereit sein. Denn Probleme gibt es genug, wie die Psy­cho­lo­g:in­nen Dagmara Lutoslawska und Vio­la Lange berichten. Zum Beispiel besäßen viele Menschen ohne Papiere gar keinen Anspruch auf staatliche Hilfe, weshalb ihnen kaum geholfen werden könne. Alle Probleme kann das neue Zentrum am Bahnhof Zoo also nicht lösen – aber vielleicht kann es ein Anfang sein.

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