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„Wäre der Traum berechenbar, wäre er kein Kunstwerk“

Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir schlafend, einen Teil davon träumen wir. Doch was passiert eigentlich in der Zeit, an die wir uns am nächsten Tag kaum erinnern können? Die Psychologin Brigitte Holzinger über das große Rätsel der Träume

Foto: Andreas Kowacsik

Brigitte Holzinger

leitet das Institut für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien und hat mehrere Bücher zum Thema publiziert, u. a.: „Der luzide Traum: Forschung und Praxis“. Ihre App Dream Sense Memory soll helfen, sich besser an die eigenen Träume zu erinnern.

Interview Stella Schalamon

taz am wochenende: Frau Holzinger, Sie haben in einer Studie herausgefunden, dass die meisten Menschen während des Corona-Lockdowns sehr gut geschlafen und sehr viel geträumt haben. Was sagt das über unser Träumen aus?

Brigitte Holzinger: Das war eine große Überraschung und zeigt, dass wir uns eigentlich in einer schlaf- und traumdeprimierten Lebenssituation befinden. Und es nicht einmal bemerken. Dabei sind es Schlaf und Traum, die unser ständiges Tunkönnen aufrechterhalten. Traumforscher, Neurophysiologen genauso wie Psychoanalytiker, gehen davon aus, dass das, was man am Tag sinnlich erlebt hat, den Traum anstößt und darin verarbeitet wird. Alles, was wir am Vortag gesehen, gerochen und gefühlt haben, muss in unseren Erfahrungsschatz integriert werden. Träume helfen uns dabei, wenn sie diesen Vorgang nicht sogar hauptsächlich bewirken. Ganz genau wissen wir das immer noch nicht.

Was genau sind Träume?

Gefühle, Gedanken und Atmosphären in bewegten Bildern. Ich spreche absichtlich nicht von inneren Filmen, weil ich finde, dass Träume eher Tableaus sind, bewegte Gemälde, Szenen. Wenn mehrere Szenen aneinandergereiht sind, kann es auch mal ein ganzer Film sein. Sie sind stark gefühls- und wenig wortbetont, assoziativ und nicht intellektuell. Man muss sich auch von dem Gedanken verabschieden, dass ein Traum eins zu eins so oder so funktioniert: Der Traum ist wie ein Kunstwerk. Wäre er berechenbar, wäre er kein Kunstwerk mehr.

Wann träumen wir?

Die Schlafforschung hat verschiedene Schlafstadien beobachtet: Einschlafstadium, Übergangsstadium, Tiefschlaf und REM-Schlaf. Das Ganze läuft in Zyklen von etwa 90 Minuten ab. Allgemein gehen wir in der Schlafforschung davon aus, dass der REM-Schlaf, in dem sich unsere Augen ganz schnell bewegen, der Traumschlaf ist. In dieser Phase ist das Hirn hochaktiv und von der Hirnaktivität im Wachzustand nicht unterscheidbar. Die Muskeln aber sind wie gelähmt. Das heißt, man ist voll involviert in das, was im Kopf passiert, aber man rennt nicht durch die Gegend. Wir können jedoch nicht ausschließen, dass wir auch in anderen Schlafstadien träumen.

Warum?

Auf eine Art träumen wir auch beim Einschlafen. Man nennt das hypnagoge Bilder, Einschlafbilder. Wir hören deutlicher, nehmen uns selbst kleiner oder größer wahr, es entwickeln sich schemenhafte Bilder, die man eigentlich schon als Traum bezeichnen könnte. Ich denke ja, dass wir dauernd von den inneren Bildern umgeben sind, aber je nach Wachheitsgrad mehr oder weniger Zugang zu ihnen haben. Wenn wir uns entspannen, in einen Tagtraum gleiten, meditieren oder eine sogenannte Traumreise machen, kommen bei den meisten Menschen Visualisierungen.

Wie viele Träume haben wir pro Nacht?

Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine schlüssige Antwort geben. Wenn man 8 Stunden schläft und eine Schlafphase 90 Minuten dauert, dann hat man vermutlich mindestens fünf REM-Schlafphasen, träumt also vermutlich fünf Mal. Allerdings sind die REM-Phasen zu Beginn der Nacht kürzer und zu ihrem Ende hin länger. Und auch da ist noch nicht ganz klar ist, ob wir durchgängig träumen oder nur in dem Moment, in dem die Augen zucken. Der dauert nämlich nur etwa 20 Sekunden, dann passiert wieder ein paar Minuten gar nichts. Unser Hirn bleibt aber aktiv und die Muskeln gelähmt.

Kommen wir träumend auf die Welt?

Babys und Kleinkinder schlafen viel mehr als Erwachsene: im Durchschnitt 16 Stunden, 8 Stunden davon in dem Stadium, das wir später REM nennen. Bei Kindern kann man es noch nicht genau als solches erkennen und spricht deshalb von aktivem Schlaf. Der wird bis zum zweiten Lebensjahr drastisch weniger. Was machen wir bis dahin? Unser Gehirn bildet sich aus, wir lernen mit unseren Sinnen wahrzunehmen, und das viele Träumen beschleunigt das vermutlich. Vielleicht schlafen Kleinkinder deshalb auch so viel. Sie leben bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Welt der Bilder. Sie müssen erst den Unterschied zwischen Wachsein und Träumen lernen. Ab dem zweiten Lebensjahr beginnen sie zwischen dem zu unterscheiden, was sie erlebt haben, und dem, was ihnen jemand erzählt hat, was sie im Fernsehen gesehen oder geträumt haben. Voll ausgebildet ist diese Fähigkeit erst ab dem fünften Lebensjahr.

Was unterscheidet einen Albtraum von einem herkömmlichen Traum?

Beim Albtraum bleibt man schock­artig im Gefühl, meistens der Angst, stecken. Als ob das Gefühl zu stark ist, als dass es weiterbestehen kann. Der Schock ist so stark, dass der Körper reagiert, obwohl dessen Muskeln im REM-Schlaf wie gelähmt sind. Man wacht auf. Deshalb wird der Albtraum vor allem dadurch definiert, dass er weckt. Der Albtraum versucht eine bestimmte Thematik, zum Beispiel ein traumatisches Erlebnis, zu bewältigen, schafft es aber nicht.

Unsere Träume wollen uns also etwas mitteilen?

Vielleicht sogar etwas bewirken. Ich denke, dass der Traum schon macht, was er soll, ohne dass wir es unbedingt merken. Ich glaube sogar, dass er teilweise ein körperlicher Akt ist, er ist eigentlich eine innere Bewegung, er bewegt etwas in uns. Daher sage ich über den Traum manchmal, dass er eine kleine Psychotherapie ist, die wir uns jede Nacht selbst angedeihen lassen. Und wenn wir uns das bewusst machen, können wir das beschleunigen oder verstärken.

Indem wir versuchen, unsere Träume zu deuten?

Da ist genau der Fehler. Ich weiß, alle wollen das. Aber es geht darum, dass wir uns mit den Träumen beschäftigen, ihnen nachspüren und nicht unbedingt ihre Rätsel lösen. Irgendwann wird schon klar werden, warum man träumt, was man träumt. Durchs Spüren. Nicht durchs Nachdenken. Es ist unglaublich, was sich daraus entwickeln kann, aber ich kann nicht sagen, ob es der Sinn des Träumens ist.

Wie spüre ich meinen Träumen am besten nach?

Ein Traumtagebuch hilft, sich sinnlich an den Traum zu erinnern. Es ist auch die Grundlage für das luzide Träumen, das seinerseits hilft, sich besser an die Träume zu erinnern. Beim luziden Träumen ist involviert, was im Traum eigentlich ausgeschaltet ist: der Intellekt. Ich bemerke, dass ich träume. Das luzide Träumen hilft deshalb großartig bei der Albtraumbewältigung. Man darf die Angst im Traum aber nicht mit Gewalt bekämpfen wollen, etwa als Spinnenphobiker die Spinne im Traum zerquetschen. Wir wissen nicht, was das bewirkt, weil es ein inneres Bild von einem selbst ist, von der eigenen Psyche. Deshalb gehört so etwas begleitet von einer Psychotherapie.

Das heißt, ein bisschen Intellekt im gefühlsbetonten Traum kann am Ende doch nicht schaden?

Das bewusste Eintauchen in die Gefühle ist eine große Bereicherung! Für die Funktion des Traums ist es nicht wichtig, sich an ihn zu erinnern. Viele Menschen möchten sich aber durch das bewusste Erinnern an den Traum Inspirationen holen. Oder sich dadurch persönlich entwickeln. Ich glaube aber, dass wir einfach eine ganz tiefe Sehnsucht nach den inneren Bildern haben, weil die uns mit starken Gefühlen kleine innere Abenteuer bescheren. Der beste Beweis für diese Annahme ist, dass sich Film und Fernsehen entwickelt haben.

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