Verunsicherung des Lesers

Gespräch über Literatur im Hause Youtube. Frauke Meyer-Gosau, Jörg Magenau und Florian Illies reden über Romane von Julian Barnes, Ottessa Moshfegh und Martin Mosebach

Geschichte zu erzählen ist Florian Illies’ Mission Foto: Patrick Bienert

Von Jan Jekal

Geschichte habe ihn immer ungeheuerlich fasziniert, sagt Florian Illies, und zugleich zornig gemacht, wenn sie ihm „zu trocken, zu papieren, zu abstrakt, zu fern präsentiert wurde“. Den Schatz der Geschichte heben durch Sprache, durch das Erzählen, durch das Herunternehmen der Menschen der Vergangenheit von ihren Sockeln, das sei seine Mission.

Mit dieser ist der 49-jährige Ex-FAZ- und Ex-Zeit-Redakteur, Ex-Rowohlt-Verleger, Kunsthändler, Kunsthistoriker, „Generation Golf“-, „1913“- und „1913: Was ich unbedingt noch erzählen wollte“-Autor Illies wahnsinnig erfolgreich. Vergangenes lebendig, Geschichtliches sinnlich erfahrbar zu machen ist auch die Mission des Buchs, das Illies am Mittwochabend als Gast beim Literarischen Trio vorstellt, einer pandemiebedingt via Zoom abgehaltenen Veranstaltung des Literaturforums im Brecht-Haus.

Er spricht über „Der Mann im roten Rock“, das neue Buch des britischen Autors Julian Barnes. Ein Buch, das vollkommen für seine „absonderlichen Leidenschaften“ gemacht sei, wie Illies sagt.

Ein panoramisches Porträt von Paris zur Belle Époque, mit dem Gynäkologen und Bonvivant Samuel Pozzi als Türöffner, einer realen Figur, denn alles in Barnes’ Buch ist wirklich passiert oder könnte zumindest wirklich passiert sein, es ist ein Sachbuch, das, wie Gastgeber Jörg Magenau sagt, in Fiktionen schwelgt, sie lustvoll erzählt und wieder zurücknimmt und stets zu dem Refrain zurückkehrt: „Wir wissen es nicht.“ Ein Buch, sagt Illies, das vor Wissen strotze, dieses Wissen aber auf leichtfüßige, wundervoll ironische Weise teile.

Am Ende, Spoiler Alert, wird Samuel Pozzi erschossen. Illies liest vor: „Ein Don Juan, erschossen von einem Mann, der ihm vorwarf, ihn nicht von seiner Impotenz geheilt zu haben. Soll das eine Moralpredigt sein? In einem Roman würde das allzu konstruiert wirken. Im nicht fiktionalen Bereich müssen wir aber auch etwas geschehen lassen, weil es so geschehen ist.“ Eine so ungeheuerliche Pointe, freut sich Illies, dass sie in einem Roman nicht hätte verwendet werden können.

Er verweist auf den politischen Subtext des Projekts, auf die Tatsache, dass Barnes’ Buch, das von grenzenüberschreitender Vernetzung handele und eine Beschwörung europäischer Internationalität sei, in genau dem historischen Moment erscheint, in dem sich England vom Kontinent in seine splendid isolation verabschiedet.

Frauke Meyer-Gosau, die zweite Gastgeberin, stellt den neuen Roman der US-amerikanischen Autorin Ottessa Moshfegh vor, die, wie sich mittlerweile zeige, eine „Spezialistin für Frauen in seelischen Ausnahmezuständen“ sei. Die Protagonistin von „Der Tod in ihren Händen“ ist eine alte Witwe, die mit ihrem Golden Retriever in einer Hütte am See lebt auf einem riesigen, abgelegenen Grundstück. Die Konturen ihres ereignislosen Lebens beginnen mit dem Auftauchen eines Zettels zu verschwimmen, grausame Dinge passieren, und was anfangs als Beschreibung der Realität erschien, zeigt sich zunehmend als Manifestation ihres wahnhaften Geistes. Der Autorin gelinge, findet eine begeisterte Meyer-Gossau, durch das Erzählen handfester, banaler Dinge eine grundlegende Verunsicherung des Lesers. Was ist wirklich, wie entwickelt sich Wirklichkeit seien die zentralen Fragen des Romans.

Eine belanglose, langweilige Erzählweise, moniert Jörg Magenau

Illies pflichtet ihr bei, er habe alle Bücher Moshfegs mit Bewunderung gelesen. „Am Ende geht man verstört, irritiert aus diesem Buch hinaus“, sagt er. „Das Einzige, das man verstanden hat, ist, dass wir es hier mit einer der ganz großen jungen Autorinnen Amerikas zu tun haben.“

Magenau ist nicht überzeugt, hielt schon das letzte Buch der gefeierten Autorin für überschätzt. „Ich glaube der alten Frau ihre Verstörung nicht“, sagt er. „Ich habe mich an keiner Stelle des Buchs bedrängt gefühlt, habe nie den Boden unter den Füßen verloren.“ Eine belanglose, langweilige Erzählweise, behäbig, nichts passiere, moniert Magenau, außer dass „man ständig den Gedanken einer alten Frau folgen muss, die sich irgendwas auszudenken versucht“.

Die Gedanken einer alten Frau langweilen ihn, mit den Gedanken eines alten Mannes kann er etwas anfangen: Er stellt „Krass“ vor, den neuen Roman von Martin Mosebach. Eine Wiedergabe der Diskussion (Magenau und Meyer-Gosau waren mit Vorbehalten überzeugt, Illies enthielt sich, da er das Buch noch als Verleger bei Rowohlt betreute) muss entfallen, weil mein Stream die meiste Zeit hakte. Man kann die Veranstaltung jedoch noch drei Monate lang auf dem Youtube-Kanal des Literaturhauses ansehen.