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Draußenschule: wenn Bäume unterrichten

An der Lüneburger Grundschule Lüne haben Drittklässler jede Woche zwei Stunden Sachunterricht unter freiem Himmel. Sie lernen, die Natur zu lieben

Draußen­schulen gibt es in mehreren Bundesländern – hier eine zweite Klasse in Niederahr im Westerwald Foto: Thomas Frey/dpa

Von Joachim Göres

20 Kinder sitzen in einer Waldlichtung auf Holzstämmen. In der Mitte liegt ein Thermometer im Laub. Lennox liest die Temperatur ab: 15 Grad. Alle holen ihr Naturtagebuch aus ihrem Rucksack und notieren die Zahl, einige malen noch eine Sonne dazu, als Erinnerung an diesen schönen Vormittag im Spätherbst. Plötzlich fangen die Bäume laut an zu rascheln. Ein Windstoß lässt viele rot-braune Blätter auf die Erde rieseln. „Oh, wie schön, guck mal!“, ruft Franka. Sie streckt ihre Arme nach oben, um ein paar Blätter zu fangen.

Was für Außenstehende wie ein Schulausflug aussieht, ist für die 3a der Grundschule Lüne ein normaler Unterrichtstag: Seit Februar findet ihr Sachunterricht jeden Dienstag für zwei Stunden im Wald statt. Die Schüler*innen aus Lüneburg sind damit die ersten in Niedersachsen, die ein Jahr lang eine sogenannte Draußenschule besuchen. „Nur bei Glatteis oder schwerem Sturm gehen wir nicht in den Wald“, sagt Sandra Miehe, Umweltpädagogin von „Landschaftsabenteuer“. Diese Bildungsinitiative hat das Konzept für die Draußenschule erarbeitet und bereits an rund einem Dutzend Schulen in Schleswig-Holstein und Hamburg erprobt.

Während Klassenlehrerin Birte Möller sich im Hintergrund hält, stellt Miehe Aufgaben. „Womit nehmen Bäume Wasser und Nährstoffe auf, über ihre Blätter, ihre Wurzeln oder ihre Zweige?“, will sie wissen – wer die richtige Antwort gibt, darf zu einem Baum seiner Wahl laufen, die anderen bleiben an ihrem Platz. „Welcher Farbstoff lässt Blätter grün aussehen, Cholesterin, Chloroform oder Chlorophyll?“, lautet die nächste Frage. „Chlorophyll, das habe ich hier im Wald gelernt“, sagt Mattes und darf wie fast alle Kinder zu einem neuen Baum rennen.

Während einer kurzen Pause stürmen viele Kinder zu einem Holzstapel, wo sie Äste hin und her räumen. „Ich kann die Blätter der Bäume voneinander unterscheiden“, sagt Lia stolz und hebt ein Ahornblatt auf – jedes Kind durfte sich im Wald einen Patenbaum aussuchen und Lia hat sich für einen Ahornbaum entschieden. Ist es nicht manchmal im Wald ungemütlich und kalt? „Nein, wir sind immer richtig angezogen. Man ist im Wald gut gelaunt“, findet Daria, die ihrer Buche regelmäßig einen Besuch abstattet. Auch andere Kinder haben ihren Patenbaum im Blick, an dem sie gelernt haben, wie man durch die Messung des Stamm­umfanges das Alter eines Baumes berechnen kann.

Nach der Pause gilt es, die nächste Aufgabe zu lösen. Miehe hat die Zeit genutzt, um im Wald Karten auszulegen, auf denen verschiedene Baumarten mit bestimmten Charakteristika wie Blätter und Wuchsform abgebildet sind. In Gruppen suchen die Kinder immer für einen Baum die passenden Karten zusammen, wobei gelegentlich die Meinungen auseinander gehen, wie bei der Eiche die Rinde oder bei der Buche die Früchte aussehen. Danach stellen sie sich im Kreis um die Karten, die sie auf den Boden gelegt haben und besprechen das Ergebnis.

Unterricht bei Wind und Wetter: „Nur bei Glatteis oder schwerem Sturm gehen wir nicht in den Wald“

Sandra Miehe, Umweltpädagogin von „Landschaftsabenteuer“

„Für die Kinder ist dieser Unterricht anschaulicher als im Klassenraum“, sagt Miehe. „Sie entdecken Wespen auf Blättern, einen lila Pilz oder unbekannte Insekten, über die wir dann weitere Informationen suchen können“, sagt Möller. „Durch solche Erlebnisse können sie sich besser erinnern. Außerdem wirkt sich das Ganze positiv auf das soziale Miteinander aus.“ Wichtiger als Noten sei die Einstellung zur Natur, sagt Möller. „Man kann nur schützen, was man liebt. Wir sehen, dass die Kinder viel aufmerksamer Tiere und Pflanzen wahrnehmen.“ Die Lehrerin und die Umweltpädagogin sprechen ab, wie die laut Lehrplan anstehenden Themen im Wald umgesetzt werden – ab sofort dreht sich alles um „Tiere im Winter“.

„Als wir 2008 gestartet sind, waren wir die ersten mit diesem Konzept. Mittlerweile gibt es weitere Anbieter sowie wissenschaftliche Studien, was das Ganze bringt“, sagt „Landschaftsabenteuer“-Gründer Johannes Plotzki. Die Universität Mainz hat ein Modellprojekt untersucht, in dem im Schuljahr 2014/15 je eine Grundschule aus Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg einmal wöchentlich den Unterricht für einige Klassen draußen durchführte. Festgestellt wurde, dass die Kontakte draußen größer waren als im Klassenzimmer und dass das Wissen über sowie das Interesse an der Natur deutlich gewachsen ist. Auch fühlten sich die Kinder entspannter, weil sie die Art der Wissensvermittlung oft gar nicht als Lernen wahrnahmen und zudem mehr Möglichkeiten zur Bewegung als im Klassenraum hatten.

Das Angebot von „Landschaftsabenteuer“ war bislang auf die Metropolregion Hamburg beschränkt, ab Februar werden auch Schulen in anderen Regionen betreut. Finanziert wird die Arbeit der Umweltpädagogen durch verschiedene Stiftungen, zudem übernehmen die Vereine der jeweiligen Schule einen geringen Eigenanteil. Manche Schulen setzen inzwischen das Draußenschulen-Konzept in Eigenregie um.