Die Kunst der fluiden Form

Der südafrikanische Künstler, Filmemacher und Regisseur William Kentridge schreibt als jüdischer Weißer seit 40 Jahren eine eindringliche Chronik seines Landes. Seine Zeichnungen und Filme schreiben dabei nicht eine einzige Erzählung fest, sondern zeigen Kunst als Prozess offenen Denkens

Korrigieren, verdichten, ausradieren, unendlich transformieren: Kentridges Zeichnungen tragen ihre Vorstufen weiter, hier „Drawing for Il Sole 24 Ore“ aus dem Jahr 2007 Foto: Artwork: Courtesy of the Artist and Goodman Gallery. Image courtesy of Zeitz MOCAA, Foto: Anel Wessels

Von Bettina Maria Brosowsky

Natürlich schöpfen Künstler:in­nen auch stets aus ihrer Biografie. Manch eine:r mag versuchen, diese Ressourcen zu negieren. Andere, wie der 1955 in Johannesburg geborene, weiße, südafrikanische Künstler, Filmemacher, Theater- und Opernregisseurs William Kentridge können kaum anders, als sich zu ihrer Prägung durch die Herkunftsfamilie zu bekennen, die politischen Zeitumstände, und, in seinem persönlichen Fall, die systematische, rohe Gewalt gegenüber Schwarzen und People of Colour, die er seit seiner Kindheit miterleben musste.

Als Sechsjähriger etwa stieß er im Arbeitszimmer seines Vaters Sidney Kentridge, Menschenrechtsanwalt und juristischer Vertreter von Nelson Mandela und weiterer Apartheid-Gegner, auf eine Schachtel mit Fotos erschossener Schwarzer Demonstrant:innen. Zu über 5.000 waren sie am 21. März 1960 gegen die diskriminierenden Passgesetze vor das Polizeirevier ihres Township gezogen. In dem als Massaker von Sharpe­ville bekannt gewordenen Gewaltakt wurden 69 von ihnen – 51 Männer, acht Frauen und zehn Kinder – durch Maschinengewehrsalven niedergestreckt, zumeist von hinten beim Wegrennen, und Hunderte verletzt. Die Aufnahmen des britischen Fotojournalisten Ian Berry, Magnum-Fotograf in der Tradition eines Robert Capa, zeigten mit wohl harschem Bildzugriff die malträtierten Leiber.

Aber wie geht ein Heranwachsender damit um? Was mag aus solchen Erlebnissen für einen künstlerischen Werdegang folgen? Als weißes Mittelschichtskind mit jüdisch-osteuropäischen Wurzeln gehörte er zu den Privilegierten in Südafrika, so William Kentridge, stets aber gingen Privileg und Bequemlichkeit zu Lasten einer anderen Person. „Sich seiner privilegierten Position bewusst zu sein, bedeutete, Verantwortung zu übernehmen und nicht einfach seine Zeit zu verplempern. Diese Einstellung war mit einem Arbeitsethos verbunden – dem Bedürfnis, die im Atelier verbrachte Zeit zu legitimieren“, fasst es der Südafrikaner im Gespräch zusammen.

Mit weiteren Texten, Bildern und Videos steht leider nur dieses Online-Angebot der Hamburger Deichtorhallen zur Verfügung, so lange die bislang größte Übersichtsausstellung zum Werk von William Kentridge in der Halle für Gegenwartskunst, veranstaltet mit dem Zeitz Museum of Contemporary Art Africa in Kapstadt, geschlossen bleiben muss.

Reflexives Zögern

Das Arbeitsethos von William Kentridge mündet nun aber nicht in puritanischer Selbstkasteiung, ganz im Gegenteil: Kentridge ist ein ebenso lust- wie humorvoll Schaffender, in seinem Atelier stets in Bewegung zwischen diversen Projekten unterschiedlichster Medien. Aber er ist auch ein Meister des reflexiven Zögerns, des Perspektivwechsels und der fluiden Form.

Sein primäres Medium ist die Zeichnung in Schwarz-Weiß, in ihr entwickeln sich seine Themen. Die zeichnende Hand kann korrigieren, verdichten, ausradieren, unendlich transformieren, wie ein Palimpsest trägt das Blatt dabei Vorstufen weiter in sich. Neben der klassischen Zeichenkohle verwendet Kentridge auch unorthodoxes Material, etwa den verkokelten Ast einer Palme oder schwarze Schuhcreme, so für die großformatige, spontaneistische Darstellung einer seiner absurden „Domestic Scenes“ von 1980.

Viele seiner Zeichnungen fertigt Kentridge für Animationen, also Filme in Stop-Motion-Technik aufeinanderfolgender Blätter, sein Markenzeichen als Künstler ab den 1980er-Jahren. Nach Studien der Politikwissenschaften und Afrikanistik, anschließend der Kunst in Afrika und einer Bühnenausbildung in Paris war er nach Johannesburg zurückgekehrt, im Bewusstsein der wechselseitigen Missverständnisse zwischen beiden Kontinenten.

Sie lassen sich nicht auf die bis heute andauernden Folgen kolonialer Ausbeutung reduzieren, sie finden sich auch in divergenten Kulturpositionen der Gegenwart. So spiegelt sich in Europa etwa die Dominanz des Intellekts über die sinnliche Wahrnehmung in einem konzeptionellen Kunstbegriff wider.

Die kurzen Filme von Kentridge aber basieren nicht auf festgeschriebenen Erzählungen oder ausgefeilter Dramaturgie. Vielmehr ließ jede Zeichnung die folgende entstehen, wie ein Prozess offenen Denkens, der auch die Rezipient:innen in ihren eigenen Gedanken nicht einschränken will. Direkter politischer Botschaft misstrauend, erfinden sie metaphorische Bilder für die Verwerfungen Afrikas, etwa in „Johannesburg, 2nd Greatest City after Paris“ von 1989: eine Stadt, gebaut auf ihrem Reichtum an Gold, über die der Nadelstreifenkapitalist Soho Eckstein herrscht. Die Stadt aber ist eine Chimäre, zerfällt in die sichtbare der weißen Einwohner und die, bis zu einem Aufstand, unsichtbar lebenden Schwarzen.

Sinnbild für die Widerständigkeit des Menschen: In der 7-Kanal-Videoinstallation „More Sweetly Play the Dance“ versammeln Kentridges Protagonist:innen universelle Werte statt identitätspolitischer Denkmonopole Foto: Studio Hans Wilschut. Courtesy William Kentridge Studio

Düstere Zuversicht

Eckstein findet seinen Gegenspieler in Felix Teitlbaum, sentimentaler Träumer und wohl Alter Ego seines Schöpfers William Kentridge. Beide treffen in derzeit elf Filmen der „Soho-Saga“ aufeinander, für die Kentridge, wie er sagt, noch kein befriedigendes Finale gefunden hat. Er sieht Wirtschaft, Umwelt und Kultur Südafrikas in den Niedergang getrieben, Afrika als Ganzes zudem nicht unproblematischen Einflüssen Chinas ausgesetzt.

Die Hamburger Ausstellung auf mehr als 3.000 Quadratmetern Fläche lässt einen, nicht zuletzt dank der atmosphärischen Inszenierung durch die Brüsseler Bühnenbildnerin Sabine Theunissen, regelrecht abtauchen in über 40 Jahre künstlerische Produktion – und ehe man sich versieht, für Stunden. 180 Arbeiten in 14 Themenblöcken erschließen Themen, skurrile Apparaturen, Arbeitsweisen, vor allem aber das Universum der Protagonist:innen des William Kentridge. Sie kommen als Zeichnungen daher, Schattenrisse aus Papier, auf Tapisserien und als menschliche Silhouetten, sind Musizierende, Tanzende in seinen Projektionen. Sie repräsentieren politische und historische Problemfelder, etwa die „Porter“ der großen Bildteppiche. Als anonyme Schwarze Akteure vor alten Karten europäischer Länder erinnern sie an die unzähligen Afrikaner, die während des Ersten Weltkriegs als Lastenträger britischen Truppen zu dienen hatten.

„Why Should I Hesitate“, der erste Teil des Ausstellungstitels, zitiert einen einberufenen Schwarzen, seine Illusion gleichwertiger Bürgerrechte in Kolonialafrika. Er beschreibt aber auch die Überwindung des eigenen Zögerns von Kentridge, sich als Weißer der fundamentalen Menschenrechtsverletzungen Schwarzer anzunehmen. So sind es universelle Werte, keine identitätspolitischen Denkmonopole, die seine Protagonist:innen in der monumentalen 15-minütigen 7-Kanal-Video-Installation „More Sweetly Play the Dance“ zusammenführen. Trotz des düsteren Titels, entlehnt der Todesfuge von Paul Celan, ist ihre endlose Prozession durch karge, in Kohle gezeichnete Landschaften kein Trauermarsch, eher ein zuversichtliches Sinnbild für die Widerständigkeit des Menschen, musikalisch getragen von einer Blechbläser-Band aus Sharpe­ville.

„William Kentridge. Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“: Ausstellung bis zum 18. April 2021 – derzeit geschlossen. Katalog: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, 88 S., 18 Euro