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Die Versuchsklasse

Die 9a am Gymnasium in Otterndorf bei Cuxhaven ist eine Pilotklasse: Sie probiert seit diesem Schuljahr aus, wie sich der Unterricht verändert, wenn alle Schüler*innen ein iPad bekommen. Die Möglichkeiten sind groß, doch ganz ohne Überwachung geht es nicht

Von Paula Bäurich

Die Schlange vor dem Kiosk im Forum, die Schultreppen, die mich heute noch mehr ins Schwitzen bringen als früher, die Klingel um 8.15 Uhr – an meiner alten Schule scheint sich nicht viel verändert zu haben. Noch immer wirkt sie im Vergleich zu anderen Schulen sehr modern: 2012 wurde das Gebäude erbaut, in dem neben dem Gymnasium auch eine Realschule untergebracht ist.

Auch als ich den Chemieraum betrete, ist auf den ersten Blick alles wie früher. Das Lehrerpult steht vor der Tafel, an der Wand hängt ein großes Periodensystem und auch sonst deutet vieles auf einen Chemieraum hin: In den Regalen liegen Erlenmeyerkolben, Reagenzgläser und Schutzbrillen. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass auf den Tischen iPads liegen.

Ich bin heute zu Gast in meiner alten Schule, um etwas über den Unterricht mit iPads zu lernen. Denn die 9a des Gymnasiums in Otterndorf, einer Kleinstadt an der Elbmündung unweit von Cuxhaven, führt ein Pilotprojekt durch. „Das Ziel des Projekts ist es herauszufinden, ob wir eine Schule werden wollen, in der alle Schüler*innen ihr eigenes Gerät haben – ob nun ein iPad oder ein Gerät von einem anderen Anbieter“, sagt Doreen Jackstell, die Lehrerin.

Sie sitzt links vom Lehrerpult, mir hat sie einen Hocker rechts mit zwei Metern Abstand angeboten. Auf dieser Seite des Pults saß ich früher nie. Dort, wo früher mein Platz war, sitzen jetzt die Schüler*innen der 9a an zusammengestellten Zweiertischen in Viererreihen. Auch an der Sitzordnung hat sich nichts geändert. Die Klasse schaut mich erwartungsvoll an. Einige wissen, wer ich bin, Otterndorf ist klein.

Seit sie iPads benutzen, habe sich der Unterricht verändert, erzählen die Schüler*innen. Larissa, die als eine der wenigen ihr iPad einsatzbereit vor sich auf dem Tisch aufgebaut hat, sagt: „Die Schule ist mit den iPads viel spannender geworden. Wir haben viel mehr Abwechslung.“

Max, der hinter Larissa sitzt, meldet sich. Auf seinem Tisch liegt ein dicker Ordner mit Arbeitsblättern. Den braucht er, da er das iPad nicht in allen Fächern nutzt: „Vor allem in den Sprachen brauchen wir es sehr viel, aber in den Naturwissenschaften ist es eigentlich überflüssig.“

Stimmt das, brauchen sie das iPad in den Naturwissenschaften wirklich nicht? Diese machen immerhin ein Drittel des Unterrichts aus. Die meisten nicken, vor allem in Mathe würden sie das iPad kaum nutzen. „Wenn man etwas zeichnen muss, ist das mit Zettel und Stift viel unkomplizierter und schneller“, sagt die Sitznachbarin von Max. Immerhin bräuchten sie mit dem iPad keinen ­Extra-Taschenrechner mehr.

In den Fächern, in denen lange Texte geschrieben werden müssen, erleichtere das Tablet die Arbeit dafür umso mehr, sagt Max. Dabei ist die externe Apple-Tastatur, die vor ihm und den anderen auf dem Tisch liegt, wirklich klein. Bekommen die Schüler*innen, wenn sie länger darauf schreiben, nicht Krämpfe in den Händen und vertippen sich? Die 9a schüttelt verwundert den Kopf. Damit hätten sie kaum Probleme. Vielleicht habe ich einfach zu dicke Finger?

„Für später ist es ja auch gut, wenn wir das schnelle Schreiben auf einer Tastatur lernen“, sagt Larissa, die ihre dicke, schwarze Winterjacke noch trägt. Die Fenster sind zum Lüften geöffnet. Draußen ist es kalt, der Rasen in den Vorgärten draußen ist noch mit Tau bedeckt.

Anfang Oktober dieses Jahres hat die Testphase des iPad-Projekts begonnen, die iPads wurden hierzu von der Schule bezahlt. Bis Ende des Schuljahres sollen Erfahrungen gesammelt werden, dann entscheidet die Schule, ob sie die Geräte flächendeckend ab der siebten Klasse einführen möchte. Insgesamt – so schätzen die Schüler*innen – würden sie das iPad in der Hälfte der Unterrichtszeit nutzen. Am hilfreichsten sei der unkomplizierte Zugang zum Internet: Schnell können sie mal etwas googeln, sich etwas übersetzen lassen oder ein Erklärvideo auf Youtube schauen.

In meiner Schulzeit – mein Abi ist jetzt vier Jahre her – war das anders. Wenn jemand zu Beginn der Stunde den Laptopwagen holen sollte, wussten wir sofort: Heute wird’s entspannt. Denn bis die Laptops aufgebaut waren, die Internetverbindung funktionierte und die Laptops die notwendigen Updates heruntergeladen hatten, war schon mindestens die Hälfte der Unterrichtszeit vergangen. Die Schule hat sich mittlerweile um neue Laptops gekümmert, an den Komfort der iPads kommen sie aber nicht heran – schon allein deswegen, weil hier jede*r Schüler*in ein ­eigenes hat.

Ben, der hinten links lässig auf seinem Stuhl sitzt, den Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, sieht noch einen weiteren Vorteil: „Airdrop ist eine super Möglichkeit, um sich witzige Videos oder Bilder zuzuschicken.“ Anfangs sei es schon mal vorgekommen, dass auf einmal die ganze Klasse gelacht habe, sagt Jackstell und grinst. „Jetzt weiß ich, dass da ein Bild in Umlauf ist.“ Auch das typische Briefchenschreiben werde durch Nachrichten per iPad ersetzt. „Ich wäre eher erstaunt, wenn sie solche Sachen nicht ausprobieren würden“, sagt Jackstell.

Mittlerweile kann sie damit auch deswegen so entspannt umgehen, weil sie eine App installiert hat, mit der sie auf ihrem iPad die Bildschirme der Schüler*innen nebeneinander sehen kann – samt deren Inhalt. In diesem Moment ist zu sehen, das fast alle Schüler*innen auf dem Home-Bildschirm ihres iPads sind – und einige sehr amüsante Selfies als Hintergrundbild eingestellt haben. Das Problem der Ablenkung sei dank der App zumindest deutlich kleiner geworden, sagt Jackstell. Andere Lehrer*innen hätten es ganz aus der Welt geschafft, erzählt die Klasse: Sie haben eine andere App installiert, anhand derer sie die Geräte der Schüler*innen steuern können. So können allein die Lehrer*innen entscheiden, wann die Schüler*innen eine App verlassen oder öffnen dürfen.

Überraschenderweise hadert die Generation der 14- bis 15-Jährigen ab und zu mit der Bedienung ihrer iPads. „Manchmal ist es schon schwierig, die Dateien gut zu sortieren. Mittlerweile sind das so viele“, sagt Max. Es komme vor, dass Dokumente verschwinden oder dass das Speichern nicht funktioniert – dann sind die Hausaufgaben weg, obwohl man sie eigentlich erledigt hat.

Max’Sitznachbarin bereitet der Akku große Schwierigkeiten. Teilweise halte er gerade so den Schultag durch, wenn sie ihn am Abend davor auflade, sagt sie. An den Tischen in der Schule sind keine Steckdosen, um das iPad zwischendurch mal aufzuladen.

Max schüttelt den Kopf, bei ihm halte der Akku manchmal sogar die ganze Woche.

Die größten Anfangsschwierigkeiten sind inzwischen aber überwunden. „Zu Beginn habe ich nur gehofft, dass die ganze Technik funktioniert“, sagt Jackstell. Da sich die iPads aber oft nicht mit dem Internet oder dem Beamer verbinden wollten, konnten sie die Geräte kaum nutzen. Nach etwa zwei Wochen waren dann zumindest diese Probleme behoben.

Zwar seien die Unterrichtsinhalte schon lange digitalisiert, sagt Jackstell, trotzdem hat sie für die heutige Chemiestunde Arbeitsblätter ausgedruckt. „Ich bin einfach ein Papiermensch und blättere lieber in einem Ordner, statt in einem zu scrollen“, sagt sie. Zudem dauere es eine Weile herauszufinden, wie das iPad am besten eingesetzt werden könne.

Vor allem aktuell sei es sehr stressig, da gerade Klausurenphase sei. „Da komme ich leider deutlich weniger als sonst dazu, mich damit zu beschäftigen, wie ich die Möglichkeiten des iPads nutzen kann“, sagt Jackstell. Als sie das erzählt, wird es sehr still im Chemieraum. Die Schüler*innen scheinen noch nicht oft gehört zu haben, was ihre Lehrer*innen über das Projekt sagen.

Obwohl Jackstell die iPad-Projektleiterin an der Schule ist, hatte sie selbst vorher kein iPad, sie hatte also keine Erfahrungen damit gemacht. „Erst wenn ich den Unterricht damit ausprobiert habe, kann ich sagen, wie ich es finde“, sagt sie. Allein muss sie das Projekt aber nicht stemmen, viele ihrer Kolleg*innen unterstützen sie und nehmen sich viel Zeit. Eine große Hilfe seien Fortbildungen, die zum Beispiel von Schulbuchverlagen angeboten würden. Da die Fortbildungen derzeit online stattfänden, könnten sie zwar an mehr Schulungen teilnehmen als sonst, trotzdem sei der Bedarf noch immer deutlich höher als das Angebot.

Immer wieder sei sie von den Funktionen überrascht, die das iPad biete, sagt Jackstell. Einiges davon setzt sie – so gut sie es schafft – schon um: Im Chemieunterricht können die Schüler*innen ab und zu digitale Versuchsprotokolle schreiben. Die Durchführung müssen sie nicht mehr detailliert erläutern, stattdessen fügen sie ein Video des Versuchs ein.

„Es soll in Schüler*innenhand liegen, wie viel sie auf dem iPad und wie viel auf Papier schreiben wollen“

Doreen Jackstell, Lehrerin am Gymnasium Otterndorf und Projektleiterin der iPad-Klasse

„Das iPad hat viel Potenzial für eine Veränderung des Unterrichts“, sagt Jackstell. Durch die Geräte sei ein viel kreativeres und individuelleres Arbeiten möglich. So ließen sich Inhalte nicht mehr nur durch Texte, sondern auch anhand von Podcasts oder Videos vermitteln. Die Schüler*innen könnten sich dann das für sie Passende heraussuchen. Das sei ein großer Vorteil, sagt Jackstell. Spielt sie ein Video für die gesamte Klasse über den Beamer ab, könne sie dabei nie den Ansprüchen aller gerecht werden, denn die Schüler*innen brauchen unterschiedlich lang, um den Inhalt zu verstehen.

Das langfristige Ziel sei nicht, den Unterricht vollständig auf das iPad zu verlagern, sondern die Möglichkeiten zu erweitern, sagt Jackstell. Die Klasse erzählt, dass einige Lehrer*innen am Ende des Unterrichts ein kurzes Quiz oder Umfragen machen. Die Schüler*innen können so erkennen, ob sie alles verstanden haben: Ob die eigenen Antworten richtig sind, wird ihnen in Sekundenschnelle angezeigt.

„Es soll in Schüler*innenhand liegen, wie viel sie auf dem iPad und wie viel auf Papier schreiben wollen“, erklärt Jackstell, als die Klasse in der Maskenpause ist – zehn Minuten, in denen sie auf den Schulhof gehen und die Maske absetzen dürfen. Je nach Fach und Schüler*in unterscheide sich sehr, wie viel das iPad tatsächlich genutzt werde. Nach den mehr als zwei Monaten, die das Projekt jetzt laufe, könne man gut beobachten, wie die Nutzung weniger werde, sagt Jackstell. „Zu Beginn war die Motivation schon sehr hoch, da das iPad etwas Neues war. Mittlerweile lässt das ein wenig nach.“

Doch als die Klasse wieder aus der Maskenpause zurück ist, ist es im Klassenraum sehr ruhig, obwohl es gerade gar keine Aufgaben zu erledigen gibt – gut drei Viertel der Schüler*innen sind am iPad.

Doch warum muss es eigentlich unbedingt ein Gerät von Apple sein? Ben meldet sich: „Auf dem iPad hat man einfach so viele gute Funktionen beisammen.“ Jackstell widerspricht: „Kannst du im Unterricht mit dem iPad etwas machen, das andere Geräte nicht können?“ Ben zuckt mit den Schultern.

Trotzdem findet auch Jackstell, dass Apple deutlich besser für den Schulbetrieb geeignet sei als andere Marken, die iPads seien deutlich benutzerfreundlicher und innovativer. Dass einige die Fokussierung auf Apple kritisch sehen, könne sie aber gut verstehen. Die Entscheidung für das iPad sei erst einmal nur für die Projektphase gefallen. Unter den Kolleg*innen werde weiter darüber diskutiert, ob es Alternativen gebe.

Genauso wichtig ist für Jackstell aber die Diskussion mit den Schüler*innen. Im Unterricht werde deswegen oft über die Geräte gesprochen: „Die Schüler*innen müssen nicht nur das Know-how lernen, sondern auch kritisch reflektieren, welche Medien sie wie verwenden.“

Als ich den Chemieraum der 9a wieder verlasse, plant die Klasse gerade das Wichteln für die kommende Woche. Dafür haben sie sich einen Ordner auf dem iPad erstellt. Auf der Treppe nach unten kommt mir mein ehemaliger Kunstlehrer entgegen. Ich muss lange hinschauen, bis ich ihn unter der Maske erkenne, und er kann mit meinem halben Gesicht leider nichts anfangen und geht vorbei.

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