: Kommt er denn bald wieder?
Etwas Positives bewirken und etwas Verpflichtendes haben, das auch Struktur gibt: In Berlin hat sich eine Initiative für Förderlehrer:innen gebildet, die sogenannten Lesepaten. Sie unterstützen auch den Regelbetrieb. Nur: Corona bremst auch hier leider eine gute Idee aus
Von Christine Zeiner
Die Jugendlichen lieben ihn – und sie vermissen ihren Herrn Baumann. Normalerweise kommt der 71-Jährige für neun Stunden pro Woche an die Quinoa-Schule im Berliner Ortsteil Wedding. Wolfram Baumann unterstützt im Unterricht als Doppelsteckung, ist Ansprechperson bei individuellen Problemen und leitet eine Mathe-AG, in der es Extraförderung am Nachmittag gibt. All das macht er ehrenamtlich und regelmäßig. Nur zu Coronazeiten bleibt Baumann als Zugehöriger einer Risikogruppe der Schule fern. „Kommt er nicht wieder?“, fragt eine Schülerin.
Begonnen hat alles mit seinem Rentenantritt vor knapp sieben Jahren. Baumann hätte gern weitergearbeitet, doch mit 65 Jahren war für ihn als Offizier bei der Luftwaffe Schluss. Doch nur „herumdaddeln und lesen“ wollte Baumann nicht. „Dafür bleibt ja immer noch genug Zeit. Und nur das zu tun, reicht mir nicht“, sagt er. „Ich mag es zu helfen, etwas Positives zu bewirken und etwas Verpflichtendes zu haben. Das gibt auch Struktur.“ Und am Abend könne er sich so mit seiner Frau über andere Themen austauschen als nur über das, was jeweils der andere aus der Zeitung erfahren habe.
In der Zeit las Baumann über die Initiative „Berliner Lesepaten“ des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI). 2.400 ehrenamtlich tätige Lese- und Lernpat:innen vermittelt das Projekt mittlerweile in der Hauptstadt: An Kitas, Grund- und Sekundarschulen unterstützen die jüngeren und älteren Helfer:innen Kinder und Jugendliche im Durchschnitt zwei bis drei Stunden pro Woche beim Lernen. Sie lesen ihnen vor, trainieren mit ihnen Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten, geben Förderunterricht, spielen mit ihnen. Der VBKI organisiert Informationsveranstaltungen und Fortbildungsmöglichkeiten. „Tolle Sache“, befand Baumann, besuchte eine der Infoveranstaltungen und wählte eine Einrichtung in der Nähe seines Wohnorts: Im Mai 2015 ging es für ihn an der Quinoa-Schule los, einer Sekundar-I-Schule im Soldiner Kiez in Berlin-Wedding.
Anfangs schnupperte Baumann in verschiedene Unterrichtsstunden hinein. Schnell wurde er zur wichtigen Stütze in Mathematik und Naturwissenschaften. „Ihr könnt mich für so ziemlich alles verbraten, aber nicht vor 10 Uhr“, sagte er der Schulleitung.
Heiter und so, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, kennen ihn Schüler:innen und die Quinoa-Mitarbeiter:innen. Diese Art ist hilfreich. Denn immer wieder wird auch Baumann mit einem frechen Spruch und Aufmüpfigkeit konfrontiert. „Schule in herausforderndem Umfeld“, beschreibt Leiter Pantelis Pavlakidis die Lehrstätte. Gegründet wurde die spendenbasierte Privatschule 2013 von zwei engagierten jungen Lehrer*innen, um Jugendlichen mit gezielten Konzepten einen Abschluss zu ermöglichen.
„Ich kann mich an meine eigene Jugendzeit erinnern“, sagt Baumann verschmitzt. Zudem sei sein Vater Pastor gewesen, als Sohn habe er verschiedene Schicksalsschläge hautnah mitbekommen sowie finanzielle Hintergründe „die nicht immer schön waren“. Auch sein früherer Beruf kommt Baumann in seinem Ehrenamt zu Gute: Viele Jahre lang war der gebürtige Bremer als Ausbilder bei der Luftwaffe tätig, zuletzt in Stettin beim Nato-Korps. Die Arbeit mit jungen Menschen habe ihm stets viel Freude bereitet. Und: „Wir erhielten eine intensive psychologische Ausbildung.“
Mit stressigen Situationen habe er sein gesamtes Berufsleben zu tun gehabt. „Und wenn ich sage ‚stressig‘, meine ich auch manchmal lebensbedrohlich.“ Mit „Chaoten in der Schule“ habe er deshalb keine Probleme. Ruhig bleiben, runterkommen – das ist auch der Leitspruch, den er den Jugendlichen mitgibt. Und im Fall des Falles auch, dass gewisses Verhalten nicht zu tolerieren sei. „Es gibt gewisse Regeln, an die musst du dich halten, sag ich dem einen oder anderen. Und, dass sich so ein bisschen Reinhängen auch lohnt.“ Das sei übrigens auch ein Gewinn für beide Seiten – für die Schüler:innen wie für ihn. In der letzten Abschlussklasse befanden sich unter den besten fünf Schüler:innen vier Jugendliche, die regelmäßig seine Mathe-AG besucht hätten. Darüber freut sich Baumann nach wie vor – auch wenn er betont, dass es bei seinem Ehrenamt nicht um schlichte Wissensvermittlung geht: Zuverlässigkeit sei besonders wichtig.
Dass die Jugendlichen Zeit brauchen, um Vertrauen aufzubauen, bestätigt auch Schulleiter Pavlakidis. Doch Engagement lohne sich, sind beide überzeugt. „Und nichts ist schöner, als ein ‚Danke‘ der jungen Leute“, sagt Baumann. „Das geht runter wie Öl.“
www.lesepaten.berlin
www.quinoa-bildung.de
www.vbki.de
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