piwik no script img

Große Sehnsucht

Coming of Age, zerdellt: „Bodensee“ von Dietmar Sous

Dietmar Sous: „Bodensee“. Transit Verlag, Berlin 2020. 144 Seiten, 18 Euro

Von Frank Schäfer

Der neue großartige Kurzroman von Dietmar Sous führt zurück in die frühen Sechziger, die eigentlich noch die Fünfziger sind. Matthias leidet unter der Generation der Väter. Seine Lehrer, Dreiviertel-Nazis allesamt, tragen den verlorenen Krieg in die Klassenzimmer und kompensieren ihre Neurosen mit einem erlesenen Sadismus. Dem Vater ist „die Hand ausgerutscht“, weil er seiner Frau Leni, einer Sophia Loren der Arbeiterklasse, nicht gewachsen ist. Es wird nicht bei diesem einen Mal bleiben. „Bodensee“ beschreibt anschaulich das destruktive Männlichkeitsgebaren, nicht nur im proletarischen und kleinbürgerlichen Milieu, das die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft vergiftet.

Sous’ Ich-Erzähler ist 15 geworden, und er versucht dieser Tristesse ein bisschen Spaß abzuringen. Matthias nimmt, was das Wirtschaftswunderland ihm bietet, Rock ’n’ Roll, Fußball, die erste Jeans, den ersten Fernseher, den ersten Urlaub. Aber das ist alles nichts gegen die wahre Verheißung, die Sous in allen seinen Romanen auf unkitschige Weise glorifiziert – die Liebe einer Frau. Sex gibt es schon mal bei Nachbarstochter Christel für fünf Mark. Landen kann Matthias bei ihr nicht. Sie trennt gern das Geschäftliche vom Privaten. Aber in den Sommerferien beim reichen Onkel am Bodensee lernt er ein Mädchen kennen. „Eva Nowak hörte sich wie ein Hollywood-Name an.“ Mehr Worte braucht Sous nicht, um die große Sehnsucht zu illuminieren.

Man hätte diese reichlich zerdellte Coming-of-Age-Geschichte auch als Tragödie erzählen können, aber Sous ist ein viel zu großer Pragmatiker oder vielleicht auch Optimist, vor allem aber ist er ein viel zu großer Ironiker, um sich die komischen Begleitumstände einer Katas­trophe durch die Lappen gehen zu lassen. Dabei wirkt seine Komik nie gesucht, sondern erwächst organisch aus der Geschichte. Sous’ Dia­loge sind von einer besonderen Kunstfertigkeit gerade da, wo sie klingen, als seien sie eine bloße Transkription des Gesprochenen.

„Whisky-Cola?

Ohne Cola, antworte ich, um den Cousin ein wenig auszubremsen. Andi ging unbeeindruckt hinter die Bar, hantierte herum, wirbelte und schüttelte, machte Wind, nein: Orkan, zelebrierte. Einserdiplom auf der Barkeeper-Fachschule, Jahrgangsbester.

Scotch oder Bourbon?

Das klang verdammt nach einer Fangfrage.

Sowohl als auch, antwortete ich clever.

Bist du sicher?

Yes.“

Trotz seines übersichtlichen Figurenarsenals zeichnet „Bodensee“ ein kollektives Psychogramm jener Jahre. Man meint, wie immer bei Sous, ein viel dickeres Buch gelesen zu haben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen