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berliner szenenMit fremden Augen sehen

Die letzten vier Jahre hatte er in London gelebt und war in Berlin noch nicht ganz heimisch geworden. Vieles schien ihm fremd. Meist trug er einen blauen Anorak und eine olivgrünweiße Wollmütze, die ihn etwas rastafarihaft und globalisierungskritisch aussehen ließ. Er sprach kaum Deutsch, und weil er so klein war, musste ich mich oft zu ihm herunterbeugen.

Gewöhnlich holte ich ihn am frühen Nachmittag bei seinem Laden in Mitte ab, und dann gingen wir spazieren. Wahrscheinlich sahen wir komisch aus, wenn wir hintereinander auf einem Bordstein balancierten. Wenn es schneite, stellte er sich in eine Ecke und ich sollte ihn mit Schneebällen bewerfen. Manchmal standen wir auch nur einfach Stunden vor den Aquarien in der Lebensmittelabteilung von Lafayette. Vielleicht war er impulsneurotisch. Manchmal kletterte er jedenfalls plötzlich auf ein fast drei Meter hohes eisernes Tor auf unserem Weg und rief lachend von oben „I am the tallest!“ Und immer wieder fragte er „Why?“ Das war so sein Ding. Warum dies, wozu ist das. Bis ins Bodenlose, definitiv nicht mehr zu beantwortende gingen seine Fragen.

Diese Röhren, die aus den meisten Geschäftshäusern in der Friedrichstraße ragten, hatten seine Aufmerksamkeit an einem Nachmittag besonders gefesselt, vielleicht auch, weil sie in seiner Augenhöhe waren. An diese Röhren werden die Schläuche der Feuerwehrautos angeschlossen, wenn’s hier mal brennt, erklärte ich ihm in einem Kauderwelsch aus „Schlauch“ und „Firebrigade“ und kam mir dabei blöd vor. Unsere Nachmittage endeten gewöhnlich in seiner Wohnung. Während ich mir einen Tee machte, backte er Kuchen aus Sand und Spülmittel. Detlef Kuhlbrodt

Diese Berliner Szene erschien erstmals im März 2004. Gerrit Bartels, einst zuständiger Redakteur für die Berlinkultur, hatte die Idee zu dieser Rubrik. Der derzeitige Berlinkulturredakteur, also icke, hat seit Jahren die Legende im Kopf, die „Berliner Szene“ sei eigens als Container für die Kuhlbrodt'schen Texte erdacht worden. „Hab ich noch nie von gehört“, sagt Kuhlbrodt dazu. „Nein“, sagt auch Gerrit Bartels, „Detlef Kuhlbrodt hatte immer freies Spiel auf der Seite, aber die Rubrik haben wir als neues Element konzipiert. Als junger Redakteur dachte ich noch, Kuhlbrodt das Plusquamperfekt auszutreiben zu müssen, bis ich verstanden habe: Ohne geht nicht. Das macht seine Texte aus.“ Dann hätten wir das zum 40. des Berlinteils auch noch geklärt.

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