piwik no script img

„Die Bestrafung der Insassen war nie das Ziel“

Permanente Überwachung und Kontrolle: Der Hamburger Politikwissenschaftler Peter Niesen erklärt, wie der englische Sozialreformer Jeremy Bentham den Strafvollzug mit seinem Panopticon humaniseren wollte

Interview Paula Bäurich

taz: Herr Niesen, welche Funktion haben Gefängnisse: (Re)Sozialisierung oder Bestrafung?

Peter Niesen: Zu dieser Unterscheidung gibt es ja berühmte Straftheorien. Ich selbst vertrete keine davon, sondern sehe mich eher auf der Seite derer, die von der Politischen Theorie aus auf die Strafpraxis schauen und die Gefängnisstrafe kritisch sehen.

Warum?

Ich habe den Eindruck, dass die Gewalthaltigkeit des Rechts hauptsächlich an den Strafgefangenen ausgeübt wird. Ich denke, man sollte versuchen, das Recht nach und nach weniger gewaltsam zu machen. Das heißt nicht, dass man sich nicht Alternativen überlegen sollte, etwa im Täter-Opfer-Ausgleich. Aber man sollte sich kritischer mit dem Gewaltpotenzial der Strafe, wie sie ausgeübt wird, beschäftigen.

Sind also auch unsere Gefängnisse eine Form der Gewaltausübung?

Ja, Wegsperren, wie es in Gefängnissen der Fall ist, hat auf jeden Fall eine Zwangs- und Gewaltdimension, da in die autonome Lebensführung der Insassen eingegriffen wird.

Ist dabei auch die Architektur des Gefängnisses entscheidend?

Architektur hat einen großen Einfluss auf die Lebensbedingungen der Inhaftierten. Sie wirkt sich aber auch auf das Verhältnis zwischen den Wärtern und Insassen aus.

Wie man die Architektur eines Gefängnisses nutzen kann, wurde bereits im 18. Jahrhundert in England thematisiert.

Ja, von Jeremy Bentham. Er war mit der Gewalthaltigkeit der damaligen Strafpraktiken unzufrieden. Bentham wollte beispielsweise die Abschaffung der Folter und der Todesstrafe. Daraus entstand die Energie, die zu Entwürfen wie dem des Panopticons geführt hat ...

... ein Konzept zum Bau von Gefängnissen, das auf stetige Überwachung abzielte.

Ja, in erster Linie entwarf Bentham den Plan für Gefängnisse. Entscheidend an der Architektur war, dass es einen zentralen Ort gab, von dem aus alle Insassen beobachtet werden konnten. Das Besondere daran ist, dass der Wärter so zwar alle Inhaftierten beobachten kann, sie ihn aber nicht, sodass sie immer davon ausgehen müssen, überwacht zu werden. Zudem wollte Bentham verhindern, dass die Insassen untereinander Kontakt haben, um einen Ausbruch oder Ähnliches zu planen.

So ähnlich sehen ja auch die Entwürfe für das geplante Jugendgefängnis in Hamburg aus. Marco Lange, Sprecher der Justizbehörde, sprach davon, es gebe „keinen Blickkontakt von Haftraum zu Haftraum“.

Durchaus kann man hier von einer Steigerung der Macht der Überwachung sprechen, wenn die Gruppen voneinander isoliert werden. Auch scheint es so, als wolle man eine lückenlose Überwachung erreichen, wie auch Bentham sie geplant hat. Der Trick im Panopticon liegt ja darin, dass man den Menschen das Gefühl gibt, dass sie ständig überwacht werden, weil sie ständig überwacht werden könnten. Es geht also um die bloße Möglichkeit, dass es so sein könnte.

Zudem wurde die gute Einsehbarkeit im geplanten Jugendgefängnis gelobt.

Ja, auch die totale Einsehbarkeit, also dass die Insassen sich nicht hinter Türen oder Ähnlichem verstecken können, ist ein Prinzip des Panopticons. Zwar hat Bentham später eingesehen, dass die Intimsphäre der Menschen in manchen Lebensvollzügen respektiert werden muss, weit darüber hinaus geht er allerdings nicht. Im Prinzip soll man die gesamte Zeit vollständig dem Blick des Wärters ausgesetzt sein.

Das hört sich sehr autoritär an.

Ja, das ist es auch. Wichtig ist dabei aber, dass Bentham auch eine Überwachung der Wärter plante, indem ihr Platz und damit auch der Blick auf die Häftlinge für die kritische Öffentlichkeit geöffnet sein sollte. So sollen sich die Menschen außerhalb des Gefängnisses vergewissern können, dass die Insassen nicht gequält werden. Das heißt, es gab sowohl eine Überwachung der Häftlinge, aber auch eine Überwachung der Überwacher selbst. Und wenn man sich dieses Prinzip der umgekehrten Blickrichtung anschaut, fällt auf, dass es auf viele andere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden kann.

War das auch Benthams Idee?

Ja, er hat sich vorgestellt, das panoptische Prinzip auch auf Fabriken, Schulen oder das Parlament anzuwenden. Beim Parlament war seine Idee, dass die Abgeordneten ständig dem Blick der Bürger ausgesetzt sind. So sollten die Machthaber kontrolliert werden. Das panoptische Prinzip von Bentham geht also immer in zwei Richtungen: Auf der einen Seite sollen die „Schwachen“, also die Häftlinge oder Arbeiter diszipliniert werden, auf der anderen Seite aber auch die Mächtigen. Ob ein panoptisches Prinzip funktioniert hat, bewertet Bentham dann anhand dessen, ob es zur Mehrung des gesellschaftlichen Glücks dient.

Warum war das für ihn das entscheidende Kriterium?

Bentham war Begründer des Utilitarismus, eine Denkrichtung, die sich der Maximierung des gesellschaftlichen Glücks verschrieben hat. Dabei geht es um die Summe des Glücks der einzelnen Mitglieder. Die kann allerdings auch dann sehr hoch sein, wenn einige Personen in der Gesellschaft unterdrückt oder unglücklich sind.

Waren die Insassen der Gefängnisse für Bentham dann glücklich oder gehörten sie zu den Unterdrückten?

Peter Niesen

56, ist seit 2013 Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg und Herausgeber von Benthams Schriften zur Französischen Revolution unter dem Titel „Unsinn auf Stelzen“ (Berlin 2013).

Bentham geht davon aus, dass es den Inhaftierten im panoptischen Gefängnis viel besser geht als im zeitgenössischen Strafvollzug, der aus Folter, Prügelei oder Fesseln bestand. Zudem plante er, dass sie im Gefängnis ein Handwerk erlernen, sodass sie sich etwas Geld ansparen können, um sich dann in Freiheit eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Seine Idee war also, dass es den Gefangenen gut geht.

War sein Ziel auch, dass sie sozialisiert werden, so wie es die Aufgabe heutiger Gefängnisse ist?

Ja, auch Bentham wollte die Inhaftierten sozialisieren. Dabei vergaß er allerdings vollständig, dass die Inhaftierten dafür Kontakt zueinander und zur Außenwelt brauchen. Stattdessen stand die Arbeit für ihn im Vordergrund. Die Wiedervergeltung hingegen spielte bei ihm im Strafzweck keine Rolle, die Bestrafung der Insassen war also nie das Ziel seines Entwurfs.

Ging Bentham nicht sowieso davon aus, dass die Insassen durch die permanente Überwachung sozialisiert werden?

Nein, zumindest nicht automatisch. Bentham selbst hält sich die Möglichkeit von Sanktionen offen. Er nimmt also nicht an, dass sich allein durch den permanenten Eindruck der Überwachung der sozialisierende Effekt bei den Insassen einstellt, sondern durch ihre Isolierung voneinander und die Möglichkeit der Sanktionierung. Zur Abschreckung stellte er sich ein Straftheater vor, bei dem keine wirkliche Bestrafung stattfindet, sondern das Schauspiel ausreicht, um die Menschen von falschem Verhalten abzuhalten.

Wurde Benthams Idee des Panopticons denn jemals umgesetzt?

Eins zu eins wurde das Panopticon nach den Bauplänen von Bentham zwar nie erbaut, aber zumindest in einer ähnlichen Form. Vor allem einzelne Prinzipien wie die gute Einsehbarkeit waren und sind allerdings immer wieder Vorbild für heutige Gefängnisse. Zum Beispiel die ständige Video-Überwachung stellt ein panoptisches Element dar.

Was würde Bentham zu unseren Gefängnissen heute sagen?

Ich vermute, er würde die Architektur unserer Gefängnisse für einen sehr großen Fortschritt gegenüber seiner Zeit halten. Als ­Utilitarist würde ihm die Gesamtreduzierung der Gewalt in der Gesellschaft positiv auffallen. Dabei würde er allerdings nicht beachten, wie Inhaftierte zu diesem Zweck unterdrückt werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen