Westlich vom Internet

Das Bremer Erzählfestival „Feuerspuren“ darf wegen Corona in diesem Jahr nicht wie gewohnt stattfinden und versucht es nun als Doppelpack aus Livestream und Hörbuch

Schon 2018 hinter Glas und heute doch irgendwie anders: das Erzählfestival Feuerspuren in Bremen Foto: Jan Meier/Feuerspuren

Von Jens Fischer

Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser, als man glaubt – sang der grönemeyernde Herbert über Bochum. Ein hansestädtischer Knödeltenor könnte so auch popselig schwadronieren über das tief im Bremer Westen (genauer: Nordwesten) liegende Gröpelingen, wo 1983 das wirtschaftliche Herz des Hafenmalocherviertels, die 80 Jahre zuvor angesiedelte Werft AG Weser, nach etlichen Infarkten endgültig ihre Arbeit aufgab. Besser, viel besser als es das negative Image eines vom Strukturwandel vergessenen Stadtteils verheißt, ist es an diesem multikulturell vitalen Ort, wo weit mehr als Hälfte aller Bewohner einen Migrationshintergrund haben.

Neugierig kommen daher seit 13 Jahren immer am ersten Novemberwochenende Buten- und Binnen-Bremer, insgesamt jeweils 5.000 bis 7.000 Menschen, um sich in der zentralen Lindenhofstraße bei einem Feuerwerk und mit Flammen tanzenden Künstlern zu wärmen, aber auch den parallel fabulierten Geschichtenreichtum und Sprachenschatz des Viertels an Erzähl-Stationen zu erleben. Dieses Umsonst-und-Draußen-und-Drinnen-Festival „Feuerspuren“ bietet Stadtteilkulturarbeit als Straßenparty-lockeres Ereignis. Ob am Bauernhof, in der Moschee, Arztpraxis, Recyclingbörse, beim Sportverein, im Frisörsalon, Fahrradladen oder in einer lagerfeuerig gemütlichen Jurte: Überall nutzen Erzählertalente des Kiezes die Freiheit, persönlich wichtige Geschichten, Moritaten, Stegreif­improvisationen und Songs zu zelebrieren.

Statt aufgeschriebene Texte vorzulesen, versteht man Storytelling hier als performative Darbietung: ein seit Menschengedenken klassisches Format, um Wissen weiterzugeben, Erfahrungen zu teilen sowie Werte und Normen zu vermitteln. Biografische Geschichten, traditionelle Erzählungen, realistische Fiktionen aus dem Stadtteil werden rund um ein jährlich wechselndes Thema entwickelt.

Ein Fest der Sprachen

„70 Sprachen sind auf Gröpelingens Straßen zu hören, Menschen aus 120 Nationen leben hier, das wollen wir als Ressource zum Klingen und eben zur Sprache bringen“, erklärt Christiane Gartner, Geschäftsführerin des Vereins Kultur vor Ort, der zusammen mit dem Bürgerhaus Oslebshausen die „Feuerspuren“ veranstaltet. Gern gesehen sind dort Erzähler, die mit mehreren Sprachen jonglieren können, andere spielen sich mit Übersetzern multilingual die Stichworte zu.

Aber in diesem Jahr ist alles anders. Bereits im März wurde klar, dass in Coronazeiten das Open-Air-Fest, der Umzug und die flammenden Shows aufgrund zu erwartender Menschenansammlungen nicht werden stattfinden können. Aber wenigstens die in 100 Workshops und 20 Sprachen monatelang vorbereiteten Geschichten sollten öffentlich Spuren hinterlassen dürfen. Auch wenn beispielsweise im Waschsalon statt der üblich 120 dicht gedrängt sitzenden und stehenden Zuhörer nach geltenden Abstandsregeln nur acht Lauscher hätten eingelassen werden dürfen. Zusätzlich waren bereits größere Veranstaltungsorte wie Kirchen, Nachbarschaftshäuser, Bildungszentren gebucht worden. Aufgrund des Verbots aller Kulturveranstaltungen zur Pandemieeindämmung ist das alles perdu. Dabei wäre das Erzähl-doch-mal-Konzept gerade jetzt in Gröpelingen von Bedeutung als solidarische Praxis gesellschaftlichen Miteinanders.

Denn: „Gröpelingen ist ein wachsender Stadtteil, die billigen Mieten gibt es nicht mehr, die Immobilienpreise steigen, wer hier Häuser oder Wohnungen sucht, findet kaum noch was“, erklärt Gartner. Annähernd ein Drittel der Bewohner sind Hartz-IV-Empfänger, die Hälfte der Kinder unter 15 Jahren auch sogenannte Leistungsbezieher. Nur 13 Prozent der Schüler machen Abitur, bei ebenso vielen besteht sonderpädagogischer Förderbedarf. „Die soziale Spaltung Bremens ist hier zu spüren“, meint Gartner.

„Diese Situation verschärft sich in der Pandemie, Corona macht die Armen noch ärmer. Viele Familien haben keine finanziellen Mittel mehr, Armut greif um sich, wir haben hier einen sehr hohen Beratungsbedarf in ganz existenziellen Fragen“, berichtet Gartner.

In dieser angespannten Situation sollte nun nicht gänzlich auf „Feuerspuren“ verzichtet werden. Eine Corona-Edition ist daher am Start. Da die Authentizität der Erzähler wichtig sei, die Art wie sie sich selbst Bild für Bild durch ihre Geschichte denken, die Storytelling-Laien vor einer Webcam an einem menschenleeren Ort diesen Zauber aber nicht entfalten könnten, hat man sich gegen ein Streaming sämtlicher Darbietungen entschieden.

Das Hörbuch „Quarantäne“ ist für 15 Euro an verschiedenen Orten in Bremen erhältlich und kann beim Veranstalter auch telefonisch, oder per Email bestellt werden Foto: Kultur vor Ort

„Die 40 Erzähler und zehn Gruppen, die auftreten sollten, suchen sich nun selbst Erzählpartner unter Einhaltung der Zwei-Haushalte-Regel. Das Festival findet dieses Jahr privat statt, wir organisieren da nichts.“ Sehr wohl aber wird es einen Live-Stream am Sonntag mit Profierzählern geben, der ohne Publikum produziert und um Filme aus Stadtteilprojekten ergänzt wird.

Das Festival kompakt

Zudem ist bereits das Hörbuch „Quarantäne“ veröffentlicht, das sich auf Giovanni Boccaccio „Decamerone“ bezieht. Die Rahmenhandlung dort erzählt von der 1348 in Florenz wütenden Pest, junge Adlige entfliehen ihr auf ein Landgut und verfallen zum Zeitvertreib aufs Erzählen. Diese Kunst wird zum Medium der Begegnung, Boccaccios Buch zur dichterischen Revolte, die demonstriert, wie man sozial, emotional, intellektuell und künstlerisch einer Pandemie trotzen kann und dabei Lebensmut bewahrt.

So ist auch die Gröpelinger Variante angelegt, für die sich Freunde eines positiv auf Corona Getesteten im Torhaus Nord quarantänisieren, gegenüber dem ehemaligen AG-Weser-Betriebsgelände, und eine Erzähl-Session um Gedanken aus Saša Stanišić' Roman „Herkunft“ inszenieren. Zwischendurch gibt’s Musik und anliegende Imbiss-Betreiber preisen die Spezialitäten ihres Hauses an. Auch werden die Fenster mal geöffnet, auf dass sich das Gesumm von 20.000 Honigbienen aus dem Urban-Gardening-Areal „Apfel-Kultur-Paradies“ mit Stimmen und Klängen des Quartiers vermengt – und Aerosole vertreibt. Etwas insiderisch, aber teilweise recht stimmungsvoll und humorig kommt die Doppel-CD daher. Ein kleiner Trost fürs feuerspurenlose erste Novemberwochenende tief im Bremer Nordwesten.

Das Festival „Feuerspuren“: veranstaltet am So., 8. 11., von 15 bis 18 Uhr, einen Live-Stream auf www.feuerspuren.de