piwik no script img

Eine Stimme finden

In ihrem Buch „Unziemliches Verhalten“ schaut die große Essayistin Rebecca Solnit zurück auf vierzig Jahre gelebten Feminismus. Wo gab es Fortschritte, wo Rückschritte und was ist wichtig für das eigene Ich

Nachdenken über Aspekte der Selbstermächtigung: Rebecca Solnit Foto: privat

Von Marlen Hobrack

Schon bei der Schriftstellerin Virginia Woolf wird der „room of one’s own“, also das Zimmer für sich allein, zum klassischen Topos der Schreibenden. Das eigene Zimmer ist nicht nur der Raum fürs Schreiben, sondern auch für die Selbstentfaltung. Raum einnehmen, ihn für sich beanspruchen, das ist der erste Schritt zur Selbstermächtigung.

So geht es auch Rebecca Solnit, die in ihrem aktuellen Buch „Unziemliches Verhalten“ zu ergründen sucht, wie sie zur Feministin wurde. Und ebendieses Buch beginnt mit der Wohnungssuche, die Solnit in ein schwarzes Viertel von San Francisco führt, wo sie eine eigentlich traumhaft günstige Einraumwohnung findet.

Viel mehr als ein Bett und ein Schreibtisch passen nicht in die Wohnung. Und trotzdem ist dieser Ort, der zugleich Raum ist, geradezu magisch aufgeladen. Die junge Frau aus dem Arbeiterklassenhaushalt, der von Gewalt beherrscht wird, findet hier einen Entfaltungsraum; sie wird zwanzig Jahre lang in dieser Wohnung leben und arbeiten. An einem Schreibtisch, der mit einer unheilvollen Geschichte behaftet ist: Denn die Freundin, die ihn der Autorin schenkt, wird von ihrem Ex-Partner mit unzähligen Messerstichen schwerstverletzt.

Solnits Schreiben beginnt an einem Ort, der an den Versuch der Auslöschung einer Frau erinnert.

Man kennt Solnit als die Autorin eines Buches über das Gehen, über das Wandern und Umherstromern. „Wanderlust“ handelt vom Denken auf zwei Beinen und handelt zugleich davon, wie das Erkunden von Raum mit dem Körper eine Entsprechung der Erkundung eines Denkraums sein kann. Schon immer war die Bewegungsfreiheit für Solnit ein entscheidender Aspekt von Selbstermächtigung, aber genau diese Bewegungsfreiheit erlebt sie als eingeschränkt.

Wandern, nächtliches Joggen, Spaziergänge, Trips an einsame Orte – oder schlicht der Weg zur Arbeit, all diese Formen der Bewegung in Raum können für Frauen Lebensgefahr bedeuten. Nicht nur in den Erzählungen besorgter Eltern treiben sich potenzielle Vergewaltiger in Büschen und dunklen Ecken herum. In Solnits Studienzeit geistern unzählige Fälle vergewaltigter und ermordeter Frauen durch die Presse.

Berichtet wird von ihnen mit einer Lust am Leid der Frauen, die insgeheim für das Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden: „Welche vernünftige Frau trampt denn?“ Solnit beschreibt es so: Sie wächst mit der ständigen Angst auf, eines Tages wie eine dieser Frauen zu enden. Überfälle, die sie selbst erlebt, scheinen die Angst zu bestätigen. Woraus sich die Frage ergibt: „Welchen Wert haben die Fortschritte der letzten Jahrzehnte, wenn meine Bewegungsfreiheit so massiv eingeschränkt ist?“

Rebecca Solnit: „Unziem­liches Verhalten“. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020, 272 Seiten, 23 Euro

Solnit, so erscheint es, muss zwangsläufig zur Feministin werden. Denn viele Lebensstationen, wie ihre ersten Buchveröffentlichungen, konfrontieren sie mit Formen des alltäglichen Sexismus.

Literarisch spannend ist dieser Text nun, weil er die Idee der Topik bei Cicero aufgreift, wonach man zum Memorieren einer Rede im Geiste Räume abläuft, in denen man Argumente findet. Räume wie die queeren Bars, in denen Solnit verkehrt. Sie führen ihr vor Augen, dass nicht Männer das Problem sind – Homosexuelle werden ihr zu besten Freunden –, sondern die Geschlechterrollen, die sich Männer aneignen.

Wie jene, Frauen stets und ständig die Welt erklären zu wollen. Solnits Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“ traf deshalb einen Nerv, weil es etwas in Worte fasste, das praktisch jede Frau kennt. Es kreierte einen Locus communis, auf den sich jede beziehen kann. She’s been there before, was auf Deutsch witzigerweise bedeutet: Sie hat es schon mal erlebt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen