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Proteste in Nigeria eskalierenJetzt ist Strategie gefragt

Kommentar von Katrin Gänsler

Das System im bevölkerungsreichsten Land Afrikas ist marode und ungerecht. Nigeria steht am Abgrund. Jetzt gilt es, die Proteste zu strukturieren.

Lagos in Nigeria am Dienstag: Menschen protestieren gegen Polizeigewalt Foto: Sunday Alamba/ap

N igeria ist zusehends außer Rand und Band, und der Staat kann die große Wut kaum noch kontrollieren. Das zeigen die Schüsse in der Nacht zu Mittwoch auf zahlreiche Menschen, die an der Mautstation Lekki in der Hafenmetropole Lagos demonstriert haben. Um die Brutalität der Polizeisonderheit SARS geht es dabei schon längst nicht mehr. Es geht ums Ganze, um ein marodes und ungerechtes System.

Seit Jahren hat sich in dem riesigen und multikulturellen Ölstaat viel Ärger aufgestaut. Durch Terrorismus, organisierte Kriminalität und Überfälle herrscht Unsicherheit in weiten Teilen des Landes. Gesundheitsversorgung und Bildung hängen vom Portemonnaie ab. Um beruflich Fuß zu fassen, sind zudem der richtige Name und ein Netzwerk nötig. Die Masse der Bevölkerung hat all das nicht.

Wahlen auf Bundes-, Landes- und Lokalebene haben das ebenso wenig geändert wie die zahllosen Versprechen der Politiker*innen. Deshalb ist es der richtige Weg, diese große Unzufriedenheit auf die Straßen zu tragen. Ohnehin ist es überraschend, dass das nicht schon viel früher geschehen ist, so stark, wie die Ungleichheit hier ausgeprägt ist. Durch ein anfangs klar definiertes Ziel, das Ende der brutalen Polizeisondereinheit SARS, hat das auch hervorragend funktioniert. Beeindruckend ist auch, wie beharrlich die Protestbewegung ist. Trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten durch Corona hat sie sich nicht mit Floskeln abspeisen lassen und macht weiter, obwohl die Sicherheitskräfte massive Gewalt einsetzen. Das ist ein Erfolg.

Nun gilt es aber, die Proteste zu strukturieren und nicht allein über die sozialen Medien zu koordinieren. Auch müssen weitere Ziele formuliert werden. Der Moment ist günstig, da der Druck auf die Regierung groß ist und die Demonstrant*innen weltweite Aufmerksamkeit bekommen. Bleibt eine Strategie jedoch aus, wird die Energie schnell verpuffen. Und genau das scheint die Taktik der Zentralregierung zu sein. Sie versucht, den Aufstand der jungen Bevölkerung auszusitzen.

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Westafrika-Korrespondentin
Nach dem Abitur im Münsterland bereiste sie zum ersten Mal Südafrika und studierte anschließend in Leipzig, Helsinki und Kopenhagen Journalistik und Afrikanistik. Nach mehreren Jahren im beschaulichen Schleswig-Holstein ging sie 2010 nach Nigeria und Benin. Seitdem berichtet sie aus ganz Westafrika – besonders gerne über gesellschaftliche Entwicklungen und all das, was im weitesten Sinne mit Religion zu tun hat.
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2 Kommentare

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  • (TEIL 1)

    Der Artikel suggeriert, dass ein allgemeines, kaum therapierbares Korruptionsproblem vorliegt.

    Tatsächlich gibt es aber ein spezifisches Problem mit Nigeria: Seit der Kolonialzeit halten die Briten durchwegs die Fulani-Minorität an der Macht. Fulani, eine der 250 Ethnien und 400 Sprachgruppen Nigerias machen nur 6.3% der nigerianischen Bevölkerung aus (de.statista.com, 2013, ohne Hausa). Ethnisch & kulturell sind die Fulani etwas "böse" gesagt, eigentlich eher Araber.

    Allein zu schwach, sind die Fulani auf die britische Rückendeckung angewiesen und sind unterwürfig begenüber Britannien. Nennt sich indirekt Rule und funktionierte hervorragend in allen Kolonien sowie noch postkolonial.

    Nun ist der Präsident Buhari auch Fulani und sieht seine Lebensmission darin, Nigeria den Fulani aus ganz Westafrika zu vererben. Die bisherige Dominanz wurde in den letzten Jahren atemberaubend schnell gesteigert: Alle entscheidenden Posten in Fulani (und z.T. zugewandten "nördlichen" islamistischen Händen). Schlüsselposten wie sämtliche "Verteidigungs"-, Geheimdienst-, und Finanz-Ministerien sowieso.

    Islamismus ist aber nur das Frontfassade, der treibende Motor ist Ethnizismus: Buhari will und muss sein Tribe retten. Koste es was es wolle. Ein neues Genozid eingeplant.

    Biafra reloaded, aber diesmal mich auf das kleine Igboland akak Biafra in Südostnigeria beschränkt, sondern als Terror-Breitenteppich ganz Nigeria entflammend, gedämpft nur durch das Bemühen, unter dem Aufmerksamkeitsradar der westlichen "Öffentlichkeit" zu fliegen. Ein "slow war".

  • (TEIL 2)

    Die Intention von Buhari ist glasklar: Vollendung der Mission von Dan Fodio (1754 -1815), d.h. mitleidlose Vernichtung/ Unterwerfung aller anderen Ethnie in der Eroberung um Lebensraum, von der Wüste bis an die Küstenregion, sodass der "Koran in den Atlantik getaucht werden kann".

    Das westliche Plünderoligarchiat arrangiert sich damit, solange aus "westlicher" Sicht die Indirect Rule funktioniert und der Petrodollar fliesst. Lediglich die mediale Berichterstattung ist zu moderieren.

    Und die taz, die Linke? Fehlanzeige. Schwelgt im Narativ von Herders-Farmer-Clash, das irgendwie mit habermaschem Dialog eingerenkt werden könne. Nein, es ist ein Krieg. Kommunikation und "Dialoge" werden strategisch instrumentalisiert.

    Die Fronten sind klar, weil die Treiber gesetzt sind: Die Fulani sind eine der Ethnien im grossen Sahelgebiet, die von der Klimaveränderung massiv an Lebensgrundlage verlieren. Dazu kommt eine extrem hohe Fertilität (Sahel 6, Niger bis 7). Es geht um die Wurst, und nicht um Dialoge.

    Dass das Plünderoligarchiat das unter den Tisch kehrt, ist klar.

    Aber die taz? Irgendwie ist die Linke befangen, ja keine Islamisten zu kritisieren. Oder schwelgt in Wüstenvölkerromantik. Schade, die Welt verändert sich gerade. Und gerade die Kulturen Südnigerias hätten dem Weltinventar einiges beizufügen.