die steile these: OlympischerSportmussunpolitischsein
Von Markus Völker
Die Welt ist disparat. 76 Demokratien stehen 91 mehr oder weniger autoritäre Regime gegenüber. Was im Demokratieindex der Zeitschrift The Economist ersichtlich wird, ist, dass der Westen mit seinen Vorstellungen von Aufklärung, Freiheitsrechten und Machtkontrolle weltweit in der Minderheit ist. Der Demokratieindex ist auch als topografische Karte zu haben. Vor allem Afrika und Asien leuchten in der Signalfarbe Rot, was demokratische Defizite markiert. Die Musterstaaten sind dunkelgrün markiert. Die Einfärbung kommt nicht von ungefähr, verweist sie doch darauf, dass die grüne Welt verstanden hat, worauf es ankommt. Der Rest ist sozusagen Entwicklungsgebiet. Die Mission des Fortschritts ist dort noch nicht angekommen.
Im Westen hat sich das Geschichtsverständnis des historischen Materialismus durchgesetzt – oder schlicht eine Vorherrschaft der Werte. Das heißt: Wir stehen auf dem Gipfel der Geschichte und schauen mit einer gewissen moralischen Abscheu in die Niederungen vergangener, aber auch aktueller Gesellschaftsentwürfe. Die liberale Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft glaubt nicht nur an die Unbegrenztheit der Märkte, sondern auch an den Universalismus der Menschenrechte. Der Westen wähnt sich nicht zu Unrecht im Besitz des besten Rezepts fürs menschliche Miteinander. Was hier zusammengerührt wird, schmeckt allen, finden die Zuckerbäcker in Washington, Berlin und Paris. Wollt ihr nicht auch davon?
Verschont uns damit, sagen die Autoritären in ihren rot markierten Staaten, wir haben unsere eigenen Zuckerl. In deren Worten: Harmonisierung, Beständigkeit, Wohlstand oder Führung. Und wer sagt denn, mögen sie provokativ anführen, dass es so viel schlechter ist, in einem Staat mit einer nicht existierenden Einkommensteuer zu leben als in einem europäischen Land mit 50 Prozent Abgabenlast, dafür aber freier Presse. Wie die Antwort eines Prenzlbergers ausfällt, ist klar. Aber was sagt Abu Dhabi dazu? Die internationalen Bruchlinien verlaufen zwischen den Begriffen Nation und Multilateralismus, Abwehrrechten gegen den Staat und staatlicher Allmacht, Individuum und Kollektiv, Selbstbestimmung und Unterwürfigkeit, Partizipation und Ausgrenzung, Säkularismus und Klerikalstaat. Diese Gegensätze beherrschen aber nicht nur die Auseinandersetzungen der demokratischen und autoritären Staaten untereinander, nein, sie sind auch in die demokratischen Länder selbst hineindiffundiert und entwickeln dort ihre Sprengkraft. Das Ringen von Demokraten mit Autoritären ist ubiquitär.
Und an dieser Stelle kommt nun das Internationale Olympische Komitee, kurz IOC, ins Spiel. Mit all diesen Widersprüchen, Konflikten und Unterschieden muss das Komitee umgehen. Mit dem Überlegenheitsgefühl des Westens und seinem bisweilen missionarischen Eifer, die Autoritäten auch bei großen Sportevents zum rechten Glauben zu bekehren. Mit dem Trotz der Adressaten, die Menschenrechte ja gemeinhin als nachrangig erachten und jeden Verweis darauf als Angriff auf ihre Autonomie verstehen. Das IOC begreift sich als Weltregierung des Sports, eine übergeordnete Instanz. Es ist de facto unpolitisch. Nur die blumigen Regeln des Olympismus gelten für alle weltweit. Kurz gesagt: Die Jugend der Welt kommt zum friedlichen Wettstreit zusammen und alle sind happy. Alles,was darüber hinausgeht, darf als politische und damit unerwünschte Meinungsäußerung gelten.
Die Haltung des IOC wurde oft und hart kritisiert. Aber wenn man die Rolle des IOC nicht nur von außen betrachtet, dann gibt es allein zwei Wege, die das Olympische Komitee beschreiten kann: Entweder es nimmt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie sämtliche Bürgerrechte mit in den Kanon des Olympismus auf und schließt mindestens 91 autoritäre Staaten von den Olympischen Spielen aus. Oder es bleibt bei seiner bisherigen Verfahrensweise des Apolitischen und gibt sich als Verwalter aller Interessen, seien sie in den Augen des Westens auch noch so verwerflich. Wollen wir also moralisch einwandfreie Spiele der „grünen“ Staaten? Oder ein „grün-rotes“ Gemeinschafts-Event? Darf das IOC für alle da sein, auch wenn in Iran ein Ringer hingerichtet wird und im Sudan Frauen beschnitten werden?
Dieses Dilemma kann das IOC nur umgehen, wenn es sich trickreich – oder sagen wir besser: dummdreist – als unpolitische Organisation gibt. Wird das IOC politisch, wird es exklusiv. Es veranstaltete dann Spiele der Gerechten im Sinne des Westens. Klar, es ist ein zynisches So-tun-als-ob, auf das sich das IOC seit Jahrzehnten kapriziert, aber auch ein pragmatisches. Oder sollte sich das IOC generell als Erziehungsanstalt für zivilisatorischen Fortschritt begreifen? Als eine Art Sport-NGO? Das klingt toll, gewonnen wäre damit aber wenig. Sportler aus China oder Saudi-Arabien, aus Aserbaidschan oder dem Kongo sollten das Recht haben, sich mit Athleten aus aller Welt und deren Ansichten auseinanderzusetzen. Sie sollten nicht in Geiselhaft genommen werden für Untaten ihrer Regime.
Besser als Bigotterie
Die apolitische Haltung des IOC mag ein bitteren Beigeschmack haben, aber sie ist gelebte Realpolitik in der Sphäre des internationalen Sports. Verbunden damit ist eine Sportdiplomatie, die bei Vertretern von Amnesty International oder Human Rights Watch Übelkeit und Abscheu erzeugt. Zu Recht. Die Haltungsschäden von IOC-Funktionären sind immens. Aber wie gesagt: Folgt das IOC dem strengen Moralkompass, dann wären die Spiele, wie wir sie bisher kannten, nicht mehr möglich. Oder die Spiele würden zu einer Olympiade der Heuchelei und Bigotterie verkommen, weil die Autoritären für zwei Wochen demokratische Leitsätze unterschreiben, später aber die Opposition in ihren Ländern knechten, als sei nichts gewesen. Der Ansatz des Apolitischen im IOC ist eine für alle sichtbare Hilfskonstruktion, wackelig und nicht schön anzuschauen, aber sie sichert den Allvertretungsanspruch der Organisation aus Lausanne für 204 IOC-Mitgliedsländer. Politische Symbolik, die bestimmte Staaten für Propaganda halten, andere für dringend geboten, nicht zuzulassen im olympischen Dorf oder den olympischen Sportstätten, ist ebenso schmerz- wie sinnvoll, weil es die Inklusion aller Sportler aus allen Teilen der Welt ermöglicht. Sportler, die sich dadurch entmündigt fühlen, können anderswo klare Bekenntnisse formulieren. Dieser Raum muss ihnen freilich ohne Sanktionen offenstehen. Die Welt ist disparat, es heißt, damit umzugehen.
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