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Allzu gut vernähtes Patchwork

Im Nachhall lusitanisch-iberischer Live-Musik verschwindet der Sinn der Tanz-Performance „Who’s afraid of Raimunda“ von Josep Caballero García. Der hat für seinen „queeren Kreuzzug“ autobiografisches Material mit historischen Texten gekreuzt

Von Katrin Ullmann

Nach etwa einer Viertelstunde ist ein nahezu lückenloser Teppich entstanden, aus bunten Tüchern, Stoffresten, Plastikfolien. Die vier Performer*innen haben ihn sorgfältig zusammengelegt – ruhig und konzentriert –, während im hinteren Drittel der Kampnagelbühne zwölf Musiker*innen der Lüneburger Symphoniker mittelalterliche, von Thomas Dorsch neu komponierte Cantigas de Santa Maria spielen. Fast wie nebenbei interpretieren die Musiker*innen diese schönen Arrangements und zugleich intrinsisch, zärtlich und melancholisch.

Diese Cantigas, auf Galizisch-Portugiesisch gesungene Gedichte zur Marienverehrung, verleihen der Performance „Who’s afraid of Raimunda“ gleich zu Anfang eine ganz eigene Atmosphäre. Eine Atmosphäre, eine Ruhe und Bedachtsamkeit, die glücklicherweise auch dann noch anhält, als das Orchester-Ensemble die Bühne schon längst verlassen hat. Nach ihrer Hamburger Premiere wird die Performance im November in Berlin gezeigt, wenn Corona das zulässt. Anfang des kommenden Jahres macht sie dann in Lüneburg Station.

Mit nackten Oberkörpern, bunten Tüchern oder Fellen um die Hüften und fest verankert in klobigen, hochhackigen Schuhen staksen dann also zwei Frauen und zwei Männer (Göksu Kunak aka Gucci Chunk, Lea Martini, Josep Caballero García und Enis Turan) über denn nun entstandenen bunten Patchworkteppich. Ein Patchworkteppich, der – denn davon hört man wenig später im Text – als hoch ästhetisches Bild (Ausstattung: Claudia Hill) vermutlich auf die „Patchwork Identities“ anspielen soll. Denn um „Patchwork Identities“ geht es (auch) an diesem Abend des Tänzers und Choreografen Josep Caballero García.

Wie sich aus Liebe, beruflichen und sozialen Beziehungen, aus kultureller und sexueller Verortung eine Identitätskonstruktion formt – und auch wieder vergeht. Um die Vielzahl an Individualitätsformen geht es ihm, um Pluralität und Beweglichkeit. Und nicht zuletzt um Genderfragen und um Queerpraxis. Kurz gesagt: Es geht um viel. Sehr viel an diesem Abend. Und, ebenso kurz gesagt: Es erschließt sich wenig. Sehr wenig.

Den Ausgangspunkt und die Namensgeberin dieser Performance bildet Caballero Garcías Urgroßmutter Raimunda. Ende des 19. Jahrhundert wuchs sie in einem spanischen Dorf auf. Lernte dort schreiben, rechnen, lesen. Sie heiratete, zog in ein nahe gelegenes anderes spanisches Dorf und war allen Bewohnern dort, aufgrund ihrer – für eine Frau der damaligen Zeit ungewöhnlichen – intellektuellen Kenntnisse umheimlich.

Sie las Zeitung, besprach Geschäftliches und einmal sogar nieste sie während eines Gottesdienstes laut und vernehmlich: Alle erschraken. Daraufhin wurde Raimunda der Hexerei und Blasphemie bezichtigt, erzählt Caballero García aus seiner Familiengeschichte. Was weiter mit seiner Urgroßmutter geschah, erzählt er nicht. Schließlich ist sie nur der Ausgangspunkt des Stücks. „Sie ist eine Figur aus meiner Familie, und sie ist die allegorische Figur unseres Stücks“, gibt er im Programmheft zu Protokoll.

Doch bevor man weiter darüber nachdenken kann, erklingt Nina Hagens epische „Naturträne“ aus einem kleinen Lautsprecher. Diese wundervolle Punk-Pop-Arie vermischt sich bald und erstaunlich geschmeidig mit Blechbläserfanfaren.

Zu diesem Sample schreiten die vier Performer feierlich im Kreis, zelebrieren mehrere Minuten lang eine Art Parade. Währenddessen strecken sie die Displays ihrer Smartphones hoch in die Luft, auf denen womöglich bereichernde oder sinnstiftende Bilder zu sehen sind, die man aus der Entfernung jedoch nicht erkennen kann. Dennoch, man guckt der Parade, den Performer*innen gern zu. Die Bestimmtheit und zugleich auch die Gelassenheit, mit der sie all diese Bühnenhandlungen ausüben, ist beeindruckend. Wenn auch die Inhalte den ganzen Abend über recht kryptisch oder – freundlich formuliert – sehr, sehr assoziativ bleiben.

Von der spanischen Urgroßmutter spinnt sich also der Faden locker fort zu patriarchalen Machtgefügen und Genderfragen, zu gesellschaftlich tradierten Bildern und Rollenmustern, zu Stigmatisierungen und zur Befreiung davon bis hin zu Homo- und Transsexualität. Von jener Raimunda kommen die Performer*innen zu Jeanne d’Arc, zu Diskriminierung, Ausgrenzung, Verurteilung und Verbrennung.

Es geht um Juden, Christen und Muslime. Es geht um die Vergangenheit und um die Gegenwart. Um Andersdenkende. Und um anders Liebende. Es geht um tiefe Gefühle und um Chromosome: die in einem kurzen, erregten Sprechgesang einer Performerin von „Chromosomes“ über „Nurse“ bis hin zu „Uterus“ morphen.

Caballero Garcías Urgroßmutter Raimunda war Ende des 19. Jahrhunderts als intellektuelle Frau in einem spanischen Dorf den Nachbarn unheimlich: Sie las Zeitung, besprach Geschäftliches und einmal sogar nieste sie in der Messe laut und vernehmlich: Blasphemie!

Im Hintergrund werden dazu von den männlichen Performern Wollknäuel aufgewickelt und aus Stoffen Zöpfe geflochten. Da werden Brüste mit neonbunten Gummibändern abgebunden, werden beschaulich Schamhaare und auch ein Penis dekoriert. Später wird noch vom mittelalterlichen Leben in Sevilla erzählt, von Brandwunden, von Hepatitis und von Ibuprofen. Und von einem Virus. Eine Verschränkung von Quellentexten und autobiografischem Material mit mittelalterlicher, iberischer und zeitgenössischer Musik und damit eine vergleichende Lektüre über die Geschichte queerer Körper.

Das, so kann man nachlesen, hatte sich das künstlerische Team rund um Josep Caballero García vorgenommen. Eine Verschränkung, die womöglich zu sehr gelungen ist. Denn sie bleibt dem Abend so immanent, dass der Zuschauer keine Chance hat, ihre Knotenpunkte und damit ihre Sinnhaftigkeit zu erfahren. Entstanden ist ein Flickenteppich, oder schöner gesagt, ein ästhetisches Patchwork, das sich vom wunderbar langen Nachhall der traumwandlerisch schönen Live-Musik nährt.

„Who’s afraid of Raimunda“ ist die zweite Arbeit des in Hamburg und Berlin lebenden Tänzers und Choreografen, die im Rahmen des zweijährigen, durch den Fonds Doppelpass geförderten Kooperationsprojekts „Queere Kreuzzüge“ entstand. Vorangegangen war das Gruppenstück „MELANCHOLÍA“, das ausgehend von Händels Barockoper ­„Giuglio Cesare“ zum binär romantischen Beziehungskonzept unserer abendländischen Gesellschaft und Kultur Stellung bezog.

„Für Josep Caballero García und sein Team von Queerpraxis ist Queerness eine künstlerische, choreografische Praxis, um sowohl binäre Geschlechterordnungen, als auch Wissens- und Identitätsnormierungen zu überschreiben. Seine Arbeiten sind ein klares Plädoyer für die Erfahrung von Uneindeutigkeit und entstehen aus dem Wunsch heraus, öffentliche Räume für queere Praktiken zu schaffen.“ Das kann man an diesem Abend zwar nicht sehen, allerbestenfalls erahnen, aber zur Not auch einfach nachlesen. Genauso wie Caballero Garcías Aussage: „Queer ist für mich kein Label, sondern eine zu teilende Praxis.“ Das mit dem Teilen hat an diesem Abend leider nicht geklappt.

Josep Caballero García/Queerpraxis: „Who’s afraid of Raimunda“, Kampnagel K2, Sa, 24. 10.,19.30 Uhr

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